Pfarrer Manfred Deselaers und seine Arbeit im Zentrum für Dialog und Gebet in Oswiecim
21/01/2021 | Na stronie od 22/01/2021
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 03/2021
Seit rund 30 Jahren ist Manfred Deselaers in Oswiecim tätig und begleitet im Zentrum für Dialog und Gebet an der Gedenkstätte Besuchergruppen. Derzeit befindet sich der Auslandsseelsorger wegen der Pandemie in Viersen-Süchteln. Gelegenheit für ein Interview anlässlich des Gedenktages zur Befreiung des KZ Auschwitz.
Wie sieht Ihre Arbeit im Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim (Auschwitz) aus?
Das Zentrum für Dialog und Gebet in Oświęcim will Besuchern der Gedenkstätte des ehemaligen deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz einen Ort anbieten, der zu Besinnung, Begegnung, Lernen und Gebet einlädt. Es geht also nicht so sehr darum, ein eigenes Programm zu bieten, sondern vielmehr um die Begleitung von Menschen. Oft ist das Dasein wichtiger als die gesprochenen Worte. Wir bieten auch Besinnungstage an, organisieren Seminare und internationale und interreligiöse Begegnungen, die sich oft aus Kontakten, die hier entstanden sind, ergeben. Auf diese Weise hilft das Zentrum, die Opfer zu ehren und eine Welt des gegenseitigen Respektes, der Versöhnung und des Friedens zu gestalten.
Welche Bedeutung besitzt die katholische Kirche für das Zentrum?
Das Zentrum ist eine Einrichtung der katholischen Kirche und gehört zur Erzdiözese Krakau. Es entstand direkt nach dem Ende des Kommunismus (eröffnet 1992) als Verwirklichung eines viel älteren Traumes. Der konkrete Anlass waren jedoch Spannungen, die entstanden, als nach dem Ende des atheistischen Kommunismus die hier lebenden Katholiken einen ständigen Ort des Gebetes, ein Kloster von Karmelitinnen, am Rande des ehemaligen Lagers einrichteten, so wie es in Dachau schon der Fall war. Das bewirkte jüdische Proteste, denn anders als in Dachau waren in Auschwitz über 90 Prozent der Opfer Juden. In anschließenden Gesprächen mit jüdischen und katholischen Vertretern wurde beschlossen, dass das Kloster verlegt und ein Zentrum für Information, Erziehung, Dialog und Gebet errichtet wird. Papst Johannes Paul II. hatte das Projekt gesegnet, Papst Benedikt XVI. hat es, als er in Auschwitz war, besucht und gesegnet.
Die seelsorgliche Präsenz der katholischen Kirche am Rande von Auschwitz hat für die Weltkirche große Bedeutung. Das Zeugnis der Kirche ist vor allem ein Glaubenszeugnis: Die Macht des Bösen und des Todes hat nicht das letzte Wort. Das letzte Wort hat Gott, der Liebe ist. Am Rande von Auschwitz ist das weniger eine Wahrheit, die gesagt werden muss, als eine, die gelebt werden will. Das beginnt mit dem Ernstnehmen der Opfer, und das heißt für die Kirche auch Gewissenserforschung. Es bedeutet positiv, den Glauben an Gott und den Menschen „nach Auschwitz“ nicht zu verlieren. Weil Gott jeden Menschen liebt, wollen wir das durch unseren Respekt bezeugen. Am Rande des Ortes, der der Verachtung und Vernichtung von Menschen diente, hat dieses Zeugnis eine große Strahlkraft. Unser Zentrum hat heute im Bereich des christlich-jüdischen Dialoges und weit darüber hinaus großes Ansehen – Gott sei Dank, möchte ich sagen.
Welcher Stellenwert kommt dem Zentrum im Jahr 2021 zu? Inwieweit beeinflusst die aktuelle politische Entwicklung in Europa die dortige Arbeit?
Im Moment ist die Gedenkstätte wegen der Pandemie geschlossen, und deshalb sind auch keine Gäste da. Aber nach dieser Zeit wird der Ort wieder belebt werden, denn die Bedeutung der Erinnerung an Auschwitz vergeht ja nicht. Der Schock der Erinnerung bleibt: Auschwitz war möglich, also ist es möglich, also kann es sich wiederholen, also sind wir verantwortlich, dass das nicht geschieht. Unser Programm ist kein politisches, aber natürlich sind wir geprägt vom Zeitgeschehen. Wie von selbst enden die Reflektionen nach dem Besuch in der Gedenkstätte mit der Frage: Und wo ist unsere Verantwortung heute?
Welche Verbindung haben Sie persönlich zum Bistum Aachen und zur Gemeinde Süchteln?
Ich bin Priester des Bistums Aachen, auch wenn ich zur Zeit als Auslandsseelsorger der Deutschen Bischofskonferenz für meine Arbeit in Polen freigestellt bin. Den Kontakt halte ich, indem ich zum Beispiel jedes Jahr an den Besinnungstagen meines Weihekurses teilnehme. Das ist mir wichtig, denn meinen Ort sehe ich sozusagen auf der Brücke, und eine Brücke braucht zwei Ufer. Nach dreißig Jahren kann ich sagen: „Ich fahre nach Hause“, und meine damit, je nach Richtung, entweder Oświęcim oder Krefeld, wo ich in Deutschland gemeldet bin. Als Kind bin ich in Viersen aufgewachsen und erinnere mich an Süchteln, weil ich dort Klassenkameraden besucht habe, nicht zuletzt im Zusammenhang mit Karneval. Kaplan war ich von 1983 bis 1989 in Mönchengladbach.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um vor Ort in der Region Krefeld / Kempen-Viersen Ihre Arbeit in Oświęcim bzw. zum Thema Holocaust zu unterstützen?
Im Moment ist das große Problem natürlich die Pandemie, die bewirkt, dass mit den Gästen auch die Einnahmen zum Unterhalt des Zentrums fehlen. Deshalb braucht es jetzt vor allem finanzielle Überbrückungshilfen. Nach dieser Krise wird sicher wie vorher dort wieder viel Betrieb sein. Auch aus der hiesigen Region waren schon viele Gruppen bei uns, zum Beispiel vom Erasmus Gymnasium in Viersen oder vom Maria-Sibylla-Merian-Gymnasium in Krefeld. Die konkrete Begegnung mit dem Ort, an dem die Verbrechen in einem so riesigen Ausmaß geschahen, macht viel tiefer bewusst, wie groß unsere Verantwortung ist, als wenn wir nur darüber reden. Um dieses Verantwortungsbewusstsein geht es. Deshalb lade ich immer wieder ein, zu einem Besinnungsaufenthalt nach Auschwitz zu kommen.
Die Züge, die dort endeten, fingen anderswo an, auch hier. Deswegen stellen sich die Fragen, die Auschwitz weckt, genauso in der Region Krefeld oder Kempen-Viersen. Auschwitz zeigt die Dimensionen unserer Verantwortung hier. Es ist wichtig, dass wir uns das immer wieder bewusst machen. Nicht nur Züge fingen hier an; auch die große Menschenverachtung, Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung fingen mit kleinen Schritten an. Bei unseren kleinen, täglichen Schritten haben wir eine sehr große Verantwortung. Auf unserer Homepage bieten wir viel Material an, das bei der Reflektion helfen kann.
Der 27. Januar wird in Erinnerung an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Wie werden Sie persönlich diesen Tag verbringen?
Leider scheint es wegen der Pandemie nicht möglich, eine öffentliche Gedenkveranstaltung zu organisieren, wie wir das zum Beispiel für Krefeld angedacht hatten. Ich werde sicher die Gedenkveranstaltung in Auschwitz, die dieses Jahr nur digital organisiert wird, im Internet verfolgen (http://auschwitz.org/). Ansonsten versuche ich, ansprechbar zu sein und Gelegenheiten zu nutzen, um Zeugnis zu geben, wie beispielsweise in diesem Interview.
Das Gespräch führte Arne Schenk.
Wer mit einer Spende helfen will, kann das über die „Stiftung für Dialog und Gebet nach Auschwitz“ beim Bistum Aachen tun, Stichwort „Zentrum für Dialog“, und erhält bei Angabe der Absenderadresse eine Spendenquittung; oder direkt nach Polen überweisen. Kontakt: manfred@cdim.pl www.cdim.pl