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Leuenberger Texte Heft 6 Leuenberg Documents Vol. 6 Kirche und Israel Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden Church and Israel A Contribution from the Reformation Churches in Europe to the Relationship between Christians and Jews Im Auftrag des Exekutivausschusses für die Leuenberger Kirchengemeinschaft herausgegeben von Helmut Schwier Mandated by the Executive Committee of the Leuenberg Church Fellowship edited by Helmut Schwier Verlag Otto Lembeck Frankfurt am Main 2001 2 3 Inhaltsverzeichnis / Contents Vorwort des Herausgebers ..................................................... 7 Preface by the Editor ............................................................... 9 Kirche und Israel – Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden ..................................................................... 11 Einleitung ................................................................................. 12 Teil I: Israel und die Kirche ........................................... 15 1 Theologische und geschichtliche Voraussetzungen ......................................................15 2 Begegnungen zwischen Kirche und Israel in reformatorischen Kirchen Europas ................................ 19 3 Israel und die Kirche im Horizont der biblischen Überlieferung .......................................................... 27 4 Zur geschichtlichen Entwicklung der Abgrenzung zwischen Kirche und Israel .................................... 34 Teil II: Die Kirche und Israel ........................................... 45 1 Theologische Versuche einer Klärung der Beziehung zwischen Kirche und Israel ................... 45 1.1 Die Vorstellung der „zwei Wege“ ......................... 45 1.2 Die Vorstellung des „ungekündigten Bundes“ und der Hineinnahme in den Einen Bund ............. 46 1.3 Die Übernahme des Gedankens der „Völkerwallfahrt zum Zion“ ...................................................... 47 1.4 Der Gedanke des Einen Gottesvolkes aus Israel und Kirche ............................................................... 48 4 1.5 Ergebnis ................................................................... 49 2 Israel und die Kirche in der christlichen Le hre .... 50 2.1 Die Offenbarung des Gottes Israels in Jesus Christus ................................................................... 50 2.2 Das christliche Verständnis der Heiligen Schriften Israels ...................................................... 54 2.3 Das christliche Gottesverständnis .......................... 58 2.4 Gottes erwählendes Handeln ................................. 61 2.5 Die Kirche als „Volk Gottes“ – Israel als „Volk Gottes“ ..................................................................... 66 3 Das Zusammenleben der Kirche mit Israel ........... 70 Teil III: Die Kirche in Israels Gegenwart ........................ 74 1 Folgerungen für die Praxis der Kirchen ................ 74 1.1 Gemeindearbeit und kirchenleitendes Handeln .... 75 1.2 Kirchliche Verkündigung und Unterricht ............. 77 1.3 Gottesdienst und Festkalender ............................... 79 1.4 Kirchliche Ausbildung und Fortbildung ............... 81 2 Zur gemeinsamen Verantwortung von Christen und Juden ................................................................ 82 Schlußwort .............................................................................. 83 Anhang Themen der während der Lehrgespräche gehaltenen Referate ..................................................................................... 84 Mitglieder der Lehrgesprächsgruppe „Kirche und Israel“ ........................................................................................ 86 5 Church and Israel – A Contribution from the Reformation Churches in Europe to the Relationship between Christians and Jews ......................................89 Introduction ............................................................................ 90 Part I: Israel and the Church .......................................... 93 1 Theological and historical presuppositions ........... 93 2 Encounters between the Church and Israel in the Reformation churches of Europe ............................ 97 3 Israel and the Church in the context of the biblical heritage .................................................... 104 4 The historical development of the dividing line between the Church and Israel ............................. 111 Part II: The Church and Israel ....................................... 121 1 Theological attempts to clarify the relation between the Church and Israel ............................. 121 1.1 The conception of “two ways” ............................ 121 1.2 The conception of the “uncancelled covenant” and the idea of inclusion in the One Covenant ....122 1.3 The adoption of the concept of the “pilgrimage of the nations to Zion” .......................................... 123 1.4 The conception of the One People of God comprising Israel and the Church ........................ 124 1.5 Conclusion ............................................................ 125 2 Israel and the Church in Christian doctrine ........ 125 2.1 The revelation of the God of Israel in Jesus Christ ..................................................................... 126 2.2 The Christian understanding of Israel’s Holy Scriptures .............................................................. 129 6 2.3 The Christian understanding of God ................... 134 2.4 God’s act of election ............................................. 136 2.5 The Church as “people of God” – Israel as “people of God” .................................................... 141 3 The coexistence of the Church with Israel .......... 145 Part III: The Church in Israel’s presence ........................ 148 1 Consequences for the practice of the churches ... 148 1.1 Parish work and church leadership ...................... 149 1.2 The church’s preaching and teaching .................. 151 1.3 Worship and the festival calendar ....................... 153 1.4 Church education and further training ................ 154 2 The common responsibility of Christians and Jews ....................................................................... 155 Concluding remarks ............................................................ 157 Appendices Subjects of addresses given during the doctrinal conversations .......................................................................... 158 Members of the doctrinal working group on “Church and Israel” ...................................................................................... 160 7 Vorwort des Herausgebers Mit der Studie „Kirche und Israel“ legen die reformatorischen Kirchen Europas erstmals einen gemeinsamen theologischen Beitrag zum Verhältnis von Christen und Juden vor. Ein im Auftrag der 4. Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft (Wien, 1994) in den Jahren 1996 bis 1999 von einer Lehrgesprächsgruppe erarbeiteter Textentwurf, dessen Entstehungsgeschichte im einzelnen in der Einleitung skizziert wird, durchlief im Jahre 2000 ein Stellungnahmeverfahren in den Signatarkirchen der Leuenberger Konkordie sowie in weiteren Kirchen und kirchlichen Zusammenschlüssen. Die in Belfast tagende 5. Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft hat den Text eingehend beraten und sich die hier vorliegende Fassung am 24. Juni 2001 einstimmig „zu eigen gemacht“. Was dies bedeutet, hatte Wilhelm Hüffmeier, Leiter des Sekretariats der Leuenberger Kirchengemeinschaft und seit Beginn in der Lehrgesprächsgruppe „Kirche und Israel“ engagiert, bereits in seiner „Einführung“ zur Leuenberger Studie „Die Kirche Jesu Christi“ erläutert: „Die Vollversammlung identifiziert sich mit diesem Text. Der Text formuliert den in dieser Frage gefundenen Konsens. Dieser Konsens besitzt zwar nicht die gleiche Verbindlichkeit wie die von den einzelnen Kirchen rezipierte Konkordie. Doch drückt der Konsens eine hohe Verpflichtung für die theologische Arbeit der in der Leuenberger Gemeinschaft verbundenen Kirchen aus.“ (Die Kirche Jesu Christi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit, hrsg. von Wilhelm Hüffmeier, Leuenberger Texte 1, Frankfurt/M. 1995, S.11). In ihrem Beschluß hat die 5. Vollversammlung die Kirchen deshalb gebeten, „das Lehrgesprächsergebnis aufzunehmen und im christlich-jüdischen Dialog und bei eigenen Arbeiten zum Thema ‚Kirche und Israel‘ zu berücksichtigen.“ Der gefundene innerevangelische Konsens, der bereits in den Beratungen der Lehrgesprächsgruppe immer neu in Diskussion und Reflexion errungen wurde – auf Abstimmungen, die zu Mehrheits- und Minderheitspositionen hätten führen müssen, ist prinzipiell verzichtet worden –, lädt nun ein zu einer breiten 8 Rezeption in den Kirchen und Gemeinden, in den verschiedenen Dialoggruppen und in der Öffentlichkeit. Synoden, Kirchenleitungen, theologische Ausschüsse, Seminare an Hochschulen, Pastoralkollegs oder in der Erwachsenenbildung werden von der Auseinandersetzung mit dieser Studie profitieren. Je nach Fragestellung können die Zugänge über einen der drei Teile der Studie, also eher historisch, eher dogmatisch oder eher praktisch gewählt werden; dabei sollte in Erinnerung bleiben, daß diese Dimensionen stets wechselseitig aufeinander bezogen sind. Der breiten Rezeption der vorgelegten Studie soll die zweisprachige Ausgabe in deutsch und englisch dienen. Der französische Text wird auf der Leuenberger website zur Verfügung stehen (www.leuenberg.net) und ebenso in den Ergänzungslieferungen zur Textsammlung: Accords et dialogues oecuméniques, Textes édités par André Birmelé et Jacques Terme, Les Bergers et les Mages, Paris 1995ff. Daß diese Studie so rasch nach der Beschlußfassung veröffentlicht werden konnte, ist das Verdienst vieler, denen zu danken ich die Freude habe: Margaret A. Pater für die zuverlässige englische Übersetzung, Hera Moon und Mark Pockrandt vom Berliner Leuenberg-Sekretariat für die organisatorische Kleinarbeit und die Gestaltung des Layouts, Dr. Wolfgang Neumann vom Verlag Otto Lembeck für die problemlose und schnelle Zusammenarbeit und last but not least den Mitgliedern der Leuenberger Lehrgesprächsgruppe, die bei den Konsultationen und bei den zusätzlichen Sitzungen der Redaktionsgruppe unter der Leitung von Dr. Ernst Michael Dörrfuß, des Vorsitzenden der Lehrgesprächsgruppe, unermüdlich und sachbezogen miteinander gearbeitet haben. Die Veröffentlichung haben durch großzügige finanzielle Unterstützung der Schweizerische Evangelische Kirchenbund, die Evangelische Kirche in Deutschland, die Evangelische Kirche der Union, die Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands und die Evangelische Kirche im Rheinland ermöglicht. Allen Verantwortlichen sei von Herzen gedankt. Helmut Schwier, Berlin im Juli 2001 9 Preface by the Editor The document ‘Church and Israel’ marks the first joint theological contribution of the Reformation churches in Europe to the relationship between Church and Israel. A draft document, whose genesis is outlined in its introduction stage by stage, was worked out between 1996 and 1999 by a Leuenberg working group pursuant to a resolution of the 4th General Assembly of the Leuenberg Church Fellowship (Vienna 1994). In 2000 it underwent a discernment procedure in the signatory churches of the Leuenberg Agreement and some other churches and church families. It was submitted to the 5th Leuenberg General Assembly in Belfast for an in-depth discussion and was adopted unanimously on 24 June 2001 in the present form. Its consequence was elucidated by Wilhelm Hüffmeier – himself actively involved from the onset in the ‘Church and Israel’ working group as director of the Leuenberg Secretariat – in his introduction to the Leuenberg document ‘The Church of Jesus Christ’ as follows: ‘The General Assembly identifies itself with this text. The text formulates the consensus reached on this issue. Although this consensus does not possess the binding force like the Agreement accepted by each individual church, it does constitute a high degree of commitment for the theological work of the churches affiliated through the Leuenberg Fellowship’ (The Church of Jesus Christ. The Contribution of the Reformation towards Ecumenical Dialogue on Church Unity, Leuenberg Documents 1, Frankfurt/M. 1995, p.77). Accordingly, the 5th General Assembly requested the churches in its resolution to ‘receive the results of the doctrinal conversations and to take them into account in Christian/Jewish dialogue and in their own work on the issue ťChurch and IsraelŤ.’ The inner-Protestant consensus reached which was continuously acquired afresh as the consultations of the study group proceeded in discussions and reflections – we forewent on principle any votes liable to majority or minority positions – calls for a broader reception in churches and congregations, various dialogue groups and the public. Dealing with this study 10 will be of advantage to synods, church governing bodies, theological committees, seminaries and faculties, pastoral colleges or in the adult education. The three parts of the document with their respective emphasis on historical, dogmatic or practical aspects may be selectively approached depending on the question raised. It should be kept in mind, however, that these dimensions are cross-referenced throughout the paper. This German- English volume is to facilitate a broader reception of this paper. The French text will be available at the Leuenberg website (www.leuenberg.net) in the near future and shall be included in one of the next supplements to the collection volume ‘Accords et dialogues oecuméniques’ (ed. André Birmelé and Jacques Terme, Les Bergers et les Mages, Paris 1995ff). The short time span between the adoption and the publication of this paper is due to the help of many whom I have pleasure in thanking: Margaret A. Pater for her reliable translation, Hera Moon and Mark Pockrandt of the Leuenberg Secretariat for organisational petty works and the layout, Dr Wolfgang Neumann of the Lembeck Publishing House for his uncomplicated and rapid coordination, and last but not least all the members of the Leuenberg doctrinal working group who have worked together with indefatigability and expertise in the consultations and supplementary editorial sessions under the chairmanship of Dr Ernst Michael Dörrfuß. The publication was made possible through the general financial support of the Federation of Swiss Protestant Churches, The Evangelical Church in Germany, The Evangelical Church of the Union, the United Evangelical Lutheran Church of Germany and the Evangelical Church in the Rhineland. Many warm thanks are due to all those in charge. Helmut Schwier, Berlin, July 2001 11 Kirche und Israel Ein Beitrag der reformatorischen Kirchen Europas zum Verhältnis von Christen und Juden Die 5. Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft hat am 24. Juni 2001 einstimmig beschlossen: 1. Sie dankt der Leuenberger Lehrgesprächsgruppe „Kirche und Israel“ für ihre Arbeit und für das vorgelegte Ergebnis ihrer Lehrgespräche. 2. Sie macht sich das Lehrgesprächsergebnis zu eigen. 3. Sie bittet die Kirchen, das Lehrgesprächsergebnis aufzunehmen und im christlich-jüdischen Dialog und bei eigenen Arbeiten zum Thema „Kirche und Israel“ zu berücksichtigen. 12 Einleitung Die 4. Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft verabschiedete am 9. Mai 1994 in Wien die Studie „Die Kirche Jesu Christi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit“. Diese Studie, in der die reformatorischen Kirchen in Europa zum ersten Mal ein gemeinsames Kirchenverständnis formulieren, beschreibt an zentraler Stelle das Wesen der Kirche als Gemeinschaft der an Jesus Christus Glaubenden, aus der sich die Selbstbezeichnung der Kirche als ‘Volk Gottes’ ableitet. Da die Bezeichnung ‘Volk Gottes’ entsprechend der alttestamentlichen Überlieferung das Selbstverständnis des Volkes Israel wiedergibt, ist durch die Selbstbezeichnung der Kirche als ‘Volk Gottes’ von vornherein die Frage der Nähe und der Abgrenzung der Kirche gegenüber Israel gestellt. In der Leuenberger Kirchenstudie heißt es deshalb ausdrücklich: „Das Verhältnis von Juden und Christen, Israel und der Kirche bedarf weiterer Lehrgespräche zwischen den an der Leuenberger Kirchengemeinschaft beteiligten Kirchen. Es ist deshalb von der Vollversammlung 1994 zu einem der drei neuen Lehrgesprächsthemen bestimmt worden.“ (S.37, Anm.3) Der daraufhin gebildeten Lehrgesprächsgruppe ‘Kirche und Israel’ gab der Exekutivausschuß der Leuenberger Kirchengemeinschaft Projektleitlinien vor, die vier Grunddaten enthielten: 1. „Es besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen der Erwählung der Kirche und der Erwählung Israels, zwischen ‘Altem’ und ‘Neuem’ Bund. 2. Das Verhältnis zu Israel gehört für Christen und Kirchen unabdingbar zur Frage nach der Begründung ihres Glaubens. 3. In der Begegnung mit dem Lebenszeugnis der Juden werden die Christen Gemeinsamkeiten und Verschiedenheiten im Leben von Kirche und Synagoge entdecken. 4. Der Dialog zwischen Juden und Christen lebt davon, daß beide das Zeugnis von der erfahrenen Wahrheit ihres 13 Glaubens nicht zurückstellen und im Bemühen um gegenseitiges Verständnis aufeinander hören.“ Nach diesen Leitlinien sollte das Lehrgespräch das Ziel haben, „ein gemeinsames Verständnis der reformatorischen Kirchen zum Thema ‘Kirche und Israel’ zu erarbeiten“. Es solle den in der Leuenberger Konkordie (Ziff.38) benannten Kriterien entsprechen, also bestimmt sein „vom Bemühen um die Aktualisierung des gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums“, und zwar „auf dem Hintergrund der besonderen Herausforderungen des christlich-jüdischen Dialogs“. Es solle offen sein „für den Dialog zwischen Christen und Juden als Grundlage zur Förderung des gegenseitigen Vertrauens“ und geeignet, „sich in Verkündigung, Unterricht und Seelsorge der Kirchen zu bewähren“. Und es solle schließlich „ein Beitrag zum ökumenischen Dialog” sein. Wichtig ist ein Hinweis zu der im Text der vorliegenden Studie verwendeten Begrifflichkeit: Der Begriff Israel bezeichnet das jüdische Volk und das Judentum als religiöse, soziale und kulturelle Größe, einschließlich möglicherweise einander widersprechender Selbstdefinitionen innerhalb der vielfältigen Strömungen des Judentums sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart. Wenn Israel im politischen Sinne gemeint ist, wird ausdrücklich vom Staat Israel gesprochen. Den eingangs genannten Projektleitlinien folgend ist die Lehrgesprächsgruppe von dem jeweiligen Kontext ausgegangen, in dem sich das von den reformatorischen Kirchen in Europa geführte christlich-jüdische Gespräch gegenwärtig vollzieht. Dabei wird in Teil I zunächst gezeigt, in welchem Maße die Unterzeichnerkirchen der Leuenberger Konkordie das Gespräch mit Israel suchen, in welchen Fragen dabei untereinander ein Konsens zu erkennen ist und wo in Einzelfragen Unterschiede bestehen (Teil I, Abschnitte 1 und 2). Da das Nachdenken über eine Neubestimmung des Verhältnisses der Kirche zu Israel nicht ohne die kritische Analyse der biblischen Grundlagen und der kirchengeschichtlichen Zusammenhänge gesche- 14 hen kann, folgt eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses von Kirche und Israel (Teil I, Abschnitte 3 und 4). Teil II enthält die notwendige dogmatische Reflexion: Zunächst werden in Abschnitt 1 bereits vorliegende theologische Versuche einer Klärung der Beziehung zwischen Kirche und Israel erörtert; in Abschnitt 2 wird dann aufgrund theologischer Kriterien in mehreren Schritten eine eigene Bestimmung dieses Verhältnisses entfaltet. In Abschnitt 3 werden die zuvor gewonnenen Erkenntnisse im Blick auf das Zusammenleben von Kirche und Israel konkretisiert. Die Studie mündet in Teil III in praktische Konsequenzen. In Abschnitt 1 werden kirchliche Handlungsfelder benannt und Aufgaben formuliert; dieser Teil schließt in Abschnitt 2 mit einer Aussage zur gemeinsamen Weltverantwortung von Juden und Christen. Im Schlußwort werden das Wissen der Kirchen um ihre Schuld, die Bitte um Vergebung und die Hoffnung, neue Wege beschreiten zu können, ausgesprochen. Zur Erarbeitung der vorliegenden Studie kamen die von mehr als 20 europäischen Kirchen entsandten Delegierten zu sieben Konsultationen zusammen (Winter 1996: Basel; Frühjahr 1997: Preetz; Herbst 1997: Warschau; Frühjahr 1998: Amsterdam; Herbst 1998: Dresden; Frühjahr 1999: Prag; Herbst 1999: Berlin). Nach dem Stellungnahmeprozeß in den Kirchen der Leuenberger Kirchengemeinschaft kam die Lehrgesprächsgruppe im November 2000 zu einer abschließenden achten Konsultation in Rom zusammen, um die mehr als 30 eingegangenen Voten zu beraten und deren Anliegen aufzunehmen. Besondere Bedeutung hat die Tatsache, daß die Professorin für Judaica und Rabbinica Dr. Chana Safrai (Jerusalem) regelmäßig an den Beratungen teilnahm; an der Tagung in Warschau waren auch der inzwischen verstorbene Rabbiner Dr. Roland Gradwohl (Jerusalem) sowie Stanislav Krajewski (Warschau) beteiligt. Die Titel aller während der Beratungen gehaltenen Vorträge sind im Anhang chronologisch zusammengestellt. 15 Teil I Israel und die Kirche 1 Theologische und geschichtliche Voraussetzungen 1.1 Die Bestimmung des Verhältnisses der Kirche zu Israel erfolgt aus mehreren Gründen: Die Kirche ist in Israel verwurzelt. Die Heiligen Schriften Israels sind als das Alte Testament ein Teil der christlichen Bibel. Die Kirche wird vom Glauben verstanden als die Gemeinschaft der an Gottes Heilstat in Jesus Christus glaubenden Menschen, als der ‘Leib Christi’; die Kirche wird aber auch verstanden als das in Christus erwählte Volk Gottes. Damit macht der christliche Glaube über die Kirche eine Aussage, die zum Selbstverständnis Israels als Volk Gottes in Spannung steht. Diese Spannung hat im Laufe der Geschichte des Verhältnisses zwischen Kirche und Israel zu unterschiedlichen Konsequenzen geführt: Epochen des Miteinanders wurden abgelöst durch Epochen des Desinteresses, oft auch der Feindschaft und des Hasses. Die Kirchen blicken zurück auf Epochen von Judenverfolgungen und insbesondere auf die Schoah, die in ihrer programmatischen Brutalität und Perfektion alle bisherigen Verfolgungen übersteigt. Die Kirchen wissen, daß sie in dieser Situation versagt haben; etliche Kirchen der Leuenberger Kirchengemeinschaft haben deshalb ihre Schuld gegenüber Israel und ihre Mitschuld an der Schoah auf unterschiedliche Weise bekannt und ihr Versagen ausgesprochen. Die Kirchen versagten aus Gleichgültigkeit und Furcht, Hochmut und Schwäche; sie versagten auch und vor allem aufgrund von falschen Auslegungen biblischer Texte und daraus resultierendem schrecklichen theologischen Irrtum. Bisweilen hatte es im Christentum die Vorstellung gegeben, die Ablehnung und Abwertung des Judentums bis hin zu ausdrücklicher Judenfeindschaft sei geradezu als ein Aspekt christlichen Selbstverständnisses anzusehen. Wenn es angesichts dieser Vergangenheit gelingt, zu einer theologisch verantworteten neuen Klärung des Verhältnisses 16 von Kirche und Israel zu kommen, so stellt dies für die Kirche einen Gewinn an Freiheit, zugleich aber auch eine theologische Bereicherung und eine vertiefte Einsicht in ihr eigenes Wesen dar. 1.2 In den im Jahre 1987 von der Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft in Straßburg für die Erarbeitung der Studie „Die Kirche Jesu Christi“ gegebenen Empfehlungen war unter anderem gesagt worden, es müsse „das Verhältnis der Christenheit zum jüdischen Volk im Rahmen reformatorischer Ekklesiologie und in der Perspektive unserer Identität als Kirche“ bedacht werden. Die dann im Jahre 1994 vorgelegte Studie folgt dieser Maßgabe, indem sie an mehreren Stellen Aussagen zum Verhältnis der Kirche zu Israel macht. 1.2.1 Das Wesen der Kirche, ihre Sendung und ihr Auftrag, wird folgendermaßen beschrieben (S.22): Sie ist „das in Christus erwählte Volk Gottes“, das vom Heiligen Geist gesammelt und gestärkt auf dem Weg ist durch die Zeit zur Vollendung im Reiche Gottes. „Im Wirksamwerden dieses allumfassenden Handelns Gottes hat die Kirche ihren Ursprung und bleibenden Grund.“ Die Kirche, die der Glaube so als „in Christus erwähltes Volk Gottes“ versteht, hat historisch gesehen ihren Ursprung in Israel. Israel aber sieht sich unverändert und ungeachtet des Christusgeschehens als das durch Gottes Handeln erwählte Volk: Gott und sein Volk Israel sind unauflöslich aneinander gebunden. Ausdruck dieses erwählenden Handelns ist der Bund Gottes, wie er insbesondere in der biblischen Überlieferung vom Geschehen am Sinai (Ex 19-24) zum Ausdruck gebracht wird. Der untrennbare Zusammenhang zwischen der Erwählung der Kirche und der Erwählung Israels als Volk Gottes ist in der Kirchenstudie aus christlicher Sicht so beschrieben (S.37): „Als sein Volk hat Gott Israel zum Glauben gerufen (Jes 7,9), ihm durch seine Weisungen den Weg zum Leben gezeigt (Ex 20,1 -17; Dtn 30,15-20) und es so zum Licht der Völker bestimmt (Jes 42,6). Diese an Israel ergangene Verheißung ist mit dem Christusgeschehen nicht hinfällig geworden, denn Gottes Treue hält an ihr fest (Röm 11,2.29).“ 17 1.2.2 In Kapitel I der Kirchenstudie („Das Wesen der Kirche als Gemeinschaft der Heiligen“) wird in Abschnitt 1.1 zunächst vom „rechtfertigenden Handeln des dreieinigen Gottes“ gesprochen. In Abschnitt 3.1 wird unter der Überschrift „Der Grund der Bestimmung der Kirche in der Erwählung – Kirche als Volk Gottes“ das Kirchenverständnis unter Bezugnahme auf biblische Aussagen näher ausgeführt: Gott hat uns „in Christus erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war“ (Eph 1,3-6); es heißt dann unter Hinweis auf Ex 19,5f ausdrücklich, daß „diese Erwählung der Kirche in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Erwählung Israels als Volk Gottes“ steht. Die Studie spricht von der „Kirche als Volk Gottes (1 Petr 2,9f)“ als der „von Christus berufene(n) Gemeinschaft der Glaubenden aus Juden und Völkern (Röm 9,24)“ (S.37). In diesem Zusammenhang wird dann in einer Anmerkung der oben in der Einleitung zitierte Satz über die Notwendigkeit von Lehrgesprächen zu dieser Thematik formuliert. 1.2.3 In Kapitel II der Kirchenstudie („Die Gemeinschaft der Heiligen in der Gesellschaft der Gegenwart“) wird in Abschnitt 3 („Die Kirchen im Dialog“) vor dem Unterabschnitt „Dialog mit den Religionen“ (3.2) zunächst vom Dialog mit dem Judentum gesprochen (3.1). Es heißt dort unter anderem (S.51): „Kirche zu sein bedeutet für die Kirchen der Reformation, daß sie sich in biblisch begründeter Priorität der Aufarbeitung ihres Verhältnisses zum Judentum zuwenden. Das Gespräch mit dem Judentum ist unverzichtbar.“ Nach einer Erinnerung an die für die Juden leidvolle Geschichte der Beziehungen zwischen Kirche und Israel heißt es dann weiter: „Die Auseinandersetzung mit der schmerzvollen und belastenden Geschichte des Verhältnisses von Juden und Christen ist für alle Kirchen zu einer zentralen Aufgabe geworden. Wo das Evangelium von der Gnade Gottes in Jesus Christus dazu mißbraucht wird, die ‘Verwerfung’ der Juden zu begründen oder Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Schicksal zu rechtfertigen, wird das Evangelium selbst als Existenzgrund der Kirche in Frage gestellt. Das Verhältnis zu Israel gehört darum für die Christen und Kirchen unabdingbar zur Frage nach der Begründung ihres Glaubens.“ 18 Bevor die Studie dann konkret vom Dialog spricht, stellt sie fest: „Die Existenz des Judentums ist für die Kirche ein Zeichen der Treue Gottes zu seinen Verheißungen, auf die auch die Kirche angesichts ihres vielfältigen Versagens, gerade in ihrem Verhältnis zu den Juden, angewiesen bleibt.“ 1.2.4 Sehr bewußt unterscheidet die Kirchenstudie den Dialog mit dem Judentum vom Dialog mit den Religionen. Zum „Dialog mit den Religionen“ wird gesagt, der Glaube wende sich „kritisch gegen jedwede Verehrung fremder Götter und jedwede Aufrichtung fremder Ideologien“, auch innerhalb der Kirche selber. Der Glaube an den in Jesus Christus handelnden Gott befähige allerdings „bei aller Kritik der Religionen auch zur Wahrnehmung des Anliegens und Sinns im Kultus und in der Vorstellungswelt anderer Religionen, ja sogar von Wahrheitsmomenten der Gottesverehrung und Gottesvorstellung in ihnen“, wobei aber „synkretistische Harmonisierungen“ im Sinne „einer neuen Überreligion“ für den christlichen Glauben ausgeschlossen blieben (S.53). Eine genaue theologische Reflexion der prinzipiellen Differenz zwischen dem Gespräch mit dem Judentum und dem Gespräch mit „den Religionen” bzw. mit „den Weltanschauungen“ (3.3) fehlt in der Kirchenstudie. Die vorliegende Studie „Kirche und Israel“ wurde deshalb erarbeitet, weil das Verhältnis der Kirche zu Israel Teil der Ekklesiologie, also ein unmittelbarer Aspekt der Identität der Kirche ist; das Problem des Verhältnisses zu den Religionen muß an anderer Stelle bedacht werden. 1.3 Wenn Christen von der bleibenden Erwählung Israels sprechen, so schließt das die Anerkennung des jüdischen Volkes als Volk Gottes ein. Demgegenüber ist die Selbstbezeichnung ‘Volk Gottes’ für die Kirche keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Selbst dann, wenn dabei zugleich die bleibende Erwählung Israels betont wird, kann das Selbstverständnis und die Selbstbezeichnung der Kirche als ‘Volk Gottes’ von Juden gleichwohl als Anmaßung empfunden werden. Jedenfalls kann die Kirche, wenn sie sich als ‘Volk Gottes’ versteht, nicht von 19 ihrem besonderen Verhältnis und ihrer besonderen Verbundenheit mit dem Judentum absehen. Die Zuordnung von Kirche und Israel, die in dem je eigenen Selbstverständnis als ‘Volk Gottes’ gründet, ist für die Kirche und für die christliche Theologie keine Randfrage. Hier wird vielmehr ein zentraler Punkt reformatorischen Kirchenverständnisses, das sich vom Handeln Gottes herleitet, berührt: Die Kirche ist vom Grund ihres Glaubens her an Israel gewiesen, und ihre Beziehung zu Israel gehört darum „unabdingbar zur Frage nach der Begründung ihres Glaubens“ (Die Kirche Jesu Christi, S.51). Das ist eine eigene Einsicht des christlichen Glaubens: Eine theologisch begründete christliche Aussage zu Israel als Volk Gottes muß aber respektieren, daß Israel sich selbst als ‘Volk Gottes’ auf seine eigene Weise beschreibt. Beide Aussagen über Israel müssen aber nicht notwendig miteinander übereinstimmen. 1.4 Das Leben des zeitgenössischen Judentums ist auch nach mehr als fünfzig Jahren durch die Schoah geprägt. Die Schoah stellt eine bleibende Herausforderung für die Kirchen und ihre Theologie dar: Sie ist eine Aufgabe für alle Kirchen in Europa, auch für diejenigen, deren Glieder an der Schoah nicht beteiligt waren. Die Schoah bleibt Anlaß zu ständiger theologischer Selbstprüfung und Erneuerung; sie zwingt dazu, den Ursachen für den immer wieder aufflammenden Judenhaß und für eine auch heute noch zu findende Judenfeindschaft nachzugehen. Diese Selbstprüfung muß den Willen und die Bereitschaft zu Buße und Umkehr sichtbar werden lassen. 2 Begegnungen zwischen Kirche und Israel in reformatorischen Kirchen Europas 2.1 Die im Wesen der Kirche liegende theologische Notwendigkeit für eine sachgemäße Bestimmung des Verhältnisses der Kirche zu Israel und die aus der Geschichte resultierende Verantwortung und Schuld sind unmittelbar aufeinander bezogen. Beiden Aspekten muß je für sich Rechnung getragen werden. 20 Mit den folgenden Überlegungen soll ein Forum für das weitere Nachdenken und für künftige Gespräche auf der Ebene der Leuenberger Kirchengemeinschaft geschaffen werden. Hierzu ist es notwendig, die jeweils in den einzelnen Kirchen unterschiedlich intensiv geführte Diskussion wahrzunehmen und einen inneren Dialog der reformatorischen Kirchen zu beginnen. 2.2 Die Vollversammlung der Leuenberger Kirchengemeinschaft hat im Jahre 1994 in Wien die reformatorischen Kirchen in Europa dazu aufgerufen, die bisher in einzelnen Kirchen gewonnenen Ergebnisse der theologischen Reflexion des Verhältnisses der Kirche zu Israel aufzunehmen und jeweils selber das Gespräch mit Israel zu suchen, zu pflegen und zu intensivieren. Darin ist die Herausforderung enthalten, über das bisher Geleistete hinaus eine von allen reformatorischen Kirchen mitgetragene und mitverantwortete Verhältnisbestimmung von Kirche und Israel zu finden. 2.3 In der Vergangenheit verlief die Reflexion der eigenen Begegnung mit Israel in den reformatorischen Kirchen in Europa sehr unterschiedlich. Im Zusammenhang des christlichjüdischen Gesprächs läßt sich ein breites Spektrum an Erfahrungen, Entwicklungen und Tendenzen erkennen. In vielen europäischen Kirchen kam es erst nach 1945 auf offizieller Ebene zur Begegnung von Christen und Juden. Damit verband sich ein Nachdenken über die Ursachen der christlichen Entfremdung vom Judentum, ja der Feindschaft gegenüber Juden, sowie die theologische Reflexion über das Selbstverständnis der jeweiligen Kirche im Gegenüber zu Israel. Die folgenden Abschnitte spiegeln die Berichte aus denjenigen Kirchen wider, die auf entsprechende Anfragen reagiert haben. Diese zeigen aus der Perspektive der jeweiligen Kirche und ihrem historischen Kontext, wie sie die Begegnung von Kirche und Israel beschreiben. Es handelt sich um eine knappe Übersicht, die die unterschiedlichen Schwerpunkte und charakteristische Entwicklungen erkennen lassen soll. 21 2.3.1 In Polen gab es in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die auf die Bekehrung von Juden zum Christentum gerichtete „Barbican“ Mission. Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es mehrere Jahre, bis die polnische reformierte Kirche mit der Erinnerung an die Zeit der Besetzung fertig wurde – jener Zeit, als das Gemeindehaus und die Kirche in Warschau von allen Seiten vom jüdischen Ghetto umgeben gewesen waren. Neben den Bemühungen um den Wiederaufbau der Kirche stand das Bestreben, den Kontakt mit dem Judentum nun in neuer Weise wieder aufzunehmen. In der Zeitschrift ‘Jednota’ (Einheit) wurde die Frage diskutiert, ob der religiöse Dialog zwischen den Christen und den gläubigen Juden möglich sei. Im Jahre 1995 gab die Synode der evangelisch- reformierten Kirche in Polen eine Erklärung zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz ab. 2.3.2 In der Staatsverfassung Norwegens von 1814 bis 1851 waren die Juden vom Reich ausgeschlossen (ohne Wohnrecht), wurden danach aber eine lebendige, nicht immer akzeptierte, Minorität. Interesse für die Juden und Solidarität mit ihnen und dem Staat Israel sind in der Kirche von Norwegen, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Okkupation Norwegens, sehr stark geworden. Die Kirche hat, obwohl spät, 1942 die erste öffentliche Kritik gegen die Deportation der norwegischen Juden geäußert. Die Solidarität mit den Juden hat sich auch durch die Begegnung mit den Juden durch die Judenmission entwickelt. Die Jüdischen Gemeinden in Norwegen sind heute klein, spielen aber eine Rolle in den öffentlichen Kultur- und Religionsdebatten. Die Kirche von Norwegen unterhält seit 1996 eine ständige Dialog-Kommission mit den Mosaischen Gemeinden in Norwegen. 2.3.3 In Dänemark war die Haltung der Kirchenleitungen gegenüber den Juden seit der Etablierung der ersten Synagogen (Ende 17. Jahrhundert) bis ins

  1. Jahrhundert durchgehend antijüdisch. Die Regierungen waren dagegen toleranter; 1814 erhielten die Juden bürgerliche Gleichberechtigung, 35 Jahre bevor die allgemeine Religionsfreiheit eingeführt wurde. Als 22 die deutsche Besatzungsmacht im Jahre 1943 die Juden verhaften und deportieren wollte, wurde ein Hirtenbrief im Gottesdienst verlesen, in dem mit Verweis auf Bibel und Gewissen Judenverfolgungen ausdrücklich verurteilt wurden. Etwa 94% der 8000 dänischen Juden wurden durch den Beistand der Bevölkerung nach Schweden gerettet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Verhältnis zwischen Kirche und Synagoge immer harmonisch, jedoch ohne nähere Verbindungen. Die Oberrabbiner haben aber bis in die jüngste Zeit durch persönliche Kontakte und zahlreiche Vorträge in kirchlichen Gemeinden Auskünfte über das Judentum gegeben. Ein offizielles Forum für Gespräche zwischen der Volkskirche und der Mosaischen Glaubensgemeinschaft gibt es aber nicht. 2.3.4 In den Kirchen der Niederlande, wo es schon nach der Dordrechter Synode im 17. Jahrhundert zu intensiven und direkten Kontakten mit Rabbinern gekommen war, entwickelte sich eine eigenständige Sicht des Verhältnisses von Christen und Juden. Das besondere Interesse am Alten Testament und die gottesdienstliche Praxis des sonntäglichen Psalmengesangs hatten einen Nährboden bereitet, auf dem sich das inhaltliche Interesse an Israel entwickelte, das Ende des 19. Jahrhunderts bei einigen Theologen ein deutliches Profil bekam. In den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts rang man mit dem Thema „Das Judentum als (An)Frage an die Kirche“ und mit dem bald brennenden Thema „Edda und Tora“. Es festigte sich die Überzeugung, daß sich das Verhältnis der Kirche zu Israel vom christlichen Verhältnis zu anderen Religionen unterscheide und daß insbesondere nicht von einer „Enterbung“ Israels gesprochen werden könne. Die Bedeutung eines theologisch reflektierten Verhältnisses zur Gegenwart Israels wurde in der Studie ‘Israel, Volk, Land und Staat’ der ‘Hervormde Synode’ im Jahre 1973 unterstrichen. 1995 wurde unter demselben Titel eine weiterführende Besinnung als Zwischenbericht den Gemeinden zugesandt. 2.3.5 In Italien sind die Beziehungen zwischen Juden und Protestanten davon geprägt, daß Juden und Waldenser jahrhun- 23 dertelang die beiden religiösen Minderheiten waren, die diskriminiert und verfolgt, aber nie ausgerottet oder assimiliert wurden; im Jahre 1848 wurden beide emanzipiert („parallele Schicksale“). Im 19. Jahrhundert gab es unter den italienischen Protestanten eine verbreitete Judenfreundlichkeit, geprägt von einer wörtlichen Auslegung einiger Verheißungen der Bibel über das Ende der Diaspora und die Heimkehr Israels in das Gelobte Land; nicht zuletzt deshalb blieben die italienischen Protestanten unanfällig für den Antisemitismus, und sie leisteten verfolgten Juden Hilfe, auch wenn es zu keiner öffentlichen Verurteilung der Rassengesetze seitens der Generalversammlungen und der Kirchenleitungen kam. Direkte Kontakte zwischen Protestanten und Juden entstanden vornehmlich nach dem Zweiten Weltkrieg, sowohl im Rahmen des gemeinsamen Interesses an der Verteidigung und am Schutz der Rechte der Minderheiten und an einem pluralistischen Charakter der Gesellschaft, wie auch im Bereich des Dialogs zwischen Juden und Christen. 2.3.6 In Frankreich fühlte sich der Protestantismus, der sich aus der geschichtlichen Erfahrung der Verfolgung und des Exils entwickelt hatte und der sich aus intensiver Bibellektüre insbesondere des Alten Testaments nährte, immer dem Judentum nahe. Im Jahre 1942 bezog die vom theologischen Denken Karl Barths beeinflußte Reformierte Kirche Stellung gegen die Rassengesetze der Vichy-Regierung; die protestantische Bevölkerung verhielt sich oft mit den Juden solidarisch. Nach dem Krieg gründete der Protestantische Bund in Frankreich eine Kommission mit dem Auftrag, dem Verhältnis zum Judentum nachzugehen und es zu überdenken; allerdings hat keine der französischen Kirchen die Frage der christlichen Mitverantwortung für die Schoah offiziell angesprochen. Die Reformierte Kirche in Elsaß-Lothringen hat 1990 auf der Synode von Saint-Louis dieser Frage eine allgemeine Einführung zum Thema „Die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens“ gewidmet. 24 2.3.7 In der Schweiz kam es im Rahmen des „Hilfswerks für die Bekennende Kirche in Deutschland“ 1941 zu einem erbitterten theologischen Grundsatzstreit über das Verständnis von Joh 4,22 („Das Heil kommt von den Juden“). Eine Gruppe verstand den Satz als Aussage über die Vergangenheit: „Das Heil kam ...“ von den nun verworfenen Juden hin zur Kirche; eine andere Gruppe las die Aussage „Das Heil kommt von den Juden“ in dem Sinn, daß die Kirche dadurch in eine bleibende Verbundenheit mit dem Volk Israel versetzt sei. Eine repräsentative Versammlung der Kirche erklärte schließlich bekenntnismäßig: „Weil geschrieben steht: ‘Das Heil kommt von den Juden’ (Joh 4,22), darum ist Antisemitismus mit der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde unvereinbar.“ 2.3.8 In der Tschechischen Republik verläuft in der Kirche der Böhmischen Brüder seit langem ein Prozeß intensiven Nachdenkens und Bemühens um eine theologische Klärung und praktische Besserung der Beziehung zu den Juden. Die Böhmischen Brüder schließen sich auf diese Weise den reformatorischen Kirchen an. Sie können dabei jene Intention aufgreifen, die in der Arbeit der tschechischen Bibelübersetzer und -ausleger zur Zeit der Reformation zu erkennen und auch in der Gegenwart wahrzunehmen ist. 2.3.9 Durch die in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft von Deutschen organisierte Judenvernichtung sehen die evangelischen Kirchen in Deutschland sich Israel in besonderer Weise verpflichtet. Ein in die Zukunft weisendes Signal gab 1950 die Synode der EKD in Berlin-Weißensee. Sie benannte erstmals die Mitschuld, die die Evangelische Kirche während der NS-Herrschaft gegenüber den Juden auf sich geladen hatte, wobei sie aussprach, daß die Kirche schuldig geworden war „durch Schweigen und Unterlassen“; und sie bekannte ihren Glauben, „daß Gottes Verheißung über dem von ihm erwählten Volk Israel auch nach der Kreuzigung Jesu Christi in Kraft geblieben ist“. Seit dem Berliner Kirchentag 1961 wird auf den Kirchentagen kontinuierlich das Gespräch mit Jüdinnen und Juden geführt. Nicht zuletzt solchen Gesprächen verdanken 25 sich die drei Studien „Christen und Juden“ aus den Jahren 1975, 1991 und 2000. In der Studie „Christen und Juden II“ wurde ein inzwischen erreichter „Grundkonsens“ festgestellt, der die „Absage an den Antisemitismus“ und das „Eingeständnis christlicher Mitverantwortung und Schuld am Holocaust“ umfaßt; hervorgehoben wird „die unlösbare Verbindung des christlichen Glaubens mit dem Judentum“ sowie „die bleibende Erwählung Israels“, hingewiesen wird auf „die Bedeutung des Staates Israel“. In den einzelnen deutschen Landeskirchen sind die Ergebnisse des theologischen Nachdenkens und des Gesprächs mit Israel auf unterschiedliche Weise aufgenommen und umgesetzt worden, wobei insbesondere der Synodalbeschluß der Evangelischen Kirche im Rheinland aus dem Jahr 1980 zu nennen ist. Seitdem haben viele Landeskirchen Erklärungen zum Verhältnis von Christen und Juden verabschiedet. Zum Teil wurden Ergänzungen der Kirchenordnungen beschlossen, in denen von der bleibenden Erwählung Israels gesprochen wird. Einige deutsche Landeskirchen formulierten eine ausdrückliche Absage an jede Form von Judenmission. 2.3.10 Die Generalsynode der Evangelischen Kirche in Österreich verabschiedete im Jahre 1998 eine ausführliche Erklärung unter dem Titel „Zeit zur Umkehr“. Darin wird festgestellt, daß die Kirchen an der Schoah mitschuldig geworden seien und daß sie sich verpflichtet wissen, „jeglichem gesellschaftlichen und persönlichen Antisemitismus zu wehren“. Es heißt in diesem Zusammenhang: „Da der Bund Gottes mit seinem Volk Israel aus lauter Gnade bis ans Ende der Zeit besteht, ist Mission unter den Juden theologisch nicht gerechtfertigt und als kirchliches Programm abzulehnen.“ 2.3.11 Die Kirche von Schottland verweist darauf, daß sie die Erfahrungen von kriegsbedingter Besatzung oder totalitärer Herrschaft nicht gemacht hat und mit den Extremen des Antisemitismus nicht konfrontiert wurde; in Schottland gibt es sehr kleine jüdische Gemeinden in wenigen Teilen des Landes. Im 26 allgemeinen bestehen gute Beziehungen zwischen der Kirche von Schottland und ihren jüdischen Nachbarn. 2.4 Die Frage einer theologischen Deutung des Staates Israel wird von den Kirchen unterschiedlich beantwortet. In einigen Erklärungen wird die Gründung dieses Staates im Jahre 1948 ausdrücklich als ein geschichtliches Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk gewertet; in anderen Erklärungen fehlt eine theologische Aussage über den Staat Israel. Ein weitgehender Konsens besteht darin, daß sorgfältig unterschieden wird zwischen der biblischen Landverheißung an das Volk Israel und dem säkularen Staat Israel. In der erwähnten österreichischen Erklärung aus dem Jahre 1998 wird die Hoffnung ausgesprochen, daß „dieser Staat mit seinen Nachbarn – insbesondere mit dem palästinensischen Volk – in gegenseitiger Achtung des Heimatrechtes einen sicheren Frieden findet, so daß Juden, Christen und Muslime friedlich zusammenleben können“. 2.5 Die Frage nach der Bedeutung der sich zu Jesus Christus bekennenden Juden, insbesondere derjenigen, die sich auch als Christen ihrer jüdischen Herkunft und Tradition verpflichtet sehen, wurde selten gestellt. Das hängt auch damit zusammen, daß die Gefahr gesehen wird, in der Begegnung zwischen Juden und Christen gewachsenes Vertrauen könnte aufs Spiel gesetzt werden. In vielen theologischen Aussagen zum Verhältnis von Kirche und Israel wird die christliche Kirche ausdrücklich oder implizit als „Kirche aus den Völkern“ verstanden, in der Menschen jüdischer Herkunft nicht mehr im Blick sind. Andererseits sagt etwa die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland im November 2000: „Das Neue Testament bezeugt die eine Kirche aus Judenchristen und Heidenchristen. Wir sehen in unseren christlichen Geschwistern jüdischer Herkunft Zeugen unserer unlösbaren Verbundenheit mit dem bleibend erwählten Gottesvolk Israel.“ Auch die Frage, ob und in welcher Weise das Zeugnis von der in Christus geschehenen Versöhnung Gottes mit der Welt, auch Israel betrifft, wurde häufig nicht thematisiert. Gerade diese Frage ist es, die Juden beunruhigt und die das Gespräch ge- 27 fährdet; deshalb vermeiden viele kirchliche Aussagen jeden Hinweis auf diese Thematik; andere halten fest, daß das Zeugnis von Christus aller Welt gilt. 2.6 Die Geschichte der reformatorischen Kirchen ist in Europa oft eng mit der Geschichte der einzelnen Nationalstaaten verbunden. Die gesellschaftliche Verantwortung der Kirchen und der einzelnen Christen wurde dabei auf unterschiedliche Weise wahrgenommen: In einigen Ländern standen die Kirchen in einer so engen Beziehung zum Staat, daß sie eine gegen Juden gerichtete staatliche Politik unterstützten oder sich zumindest jeder Kritik enthielten. Es gab auch Kirchen, die zwar selber in bestimmten geschichtlichen Phasen ebenso wie die Juden als religiöse Minderheiten unterdrückt und verfolgt wurden, die dabei aber keine positive Interpretation des Judentums entwickelten oder gar aktive Solidarität mit Juden übten. Beides muß gesagt werden: Aus der Zeit des Nationalsozialismus resultiert eine besondere Verantwortung Deutschlands und der Christen in Deutschland; aber alle Kirchen haben an der besonderen europäischen Schuldgeschichte an Israel teil, insofern sie der Judenfeindschaft nicht nachdrücklich widersprochen oder ihr sogar im Gegenteil direkt oder indirekt Vorschub geleistet haben. 3 Israel und die Kirche im Horizont der biblischen Überlieferung 3.1 Die Notwendigkeit, über das Verhältnis von Kirche und Israel nachzudenken, ergibt sich unmittelbar von den Anfängen des Christentums her. Die diese Anfänge bezeugenden biblischen Texte verweisen nicht nur auf den historischen Ursprung der Kirche und damit auf das geschichtliche Verhältnis zu Israel, sondern sie sind Ausgangspunkt und kritischer Bezugspunkt (fons et iudex) aller theologischen Reflexion. 3.2 Die Heiligen Schriften Israels, der Tenach (Tora, Propheten, ‘Schriften’), bezeugen die Geschichte Gottes, des Schöp- 28 fers, der sein Volk Israel erwählt hat und es durch die Geschichte hindurch führt. Diese Geschichte setzt ein mit der Erwählung der Väter und Mütter. Die Heiligen Schriften erzählen vom befreienden Auszug des Volkes aus Ägypten und von Gottes Gabe der Tora am Sinai, von der Landnahme und der Staatwerdung. Die in diesen Schriften bezeugte Geschichte setzt sich fort im Babylonischen Exil, der Rückkehr in das Land und dem Bau des Zweiten Tempels. Es gehört zu dieser Geschichte, daß ein großer Teil des Volkes in der Diaspora lebt. Die im Kontext dieser Geschichte Gottes mit Israel ergehende Verkündigung der Propheten spiegelt Erfahrungen von Heil und Gericht, Erfahrungen der Hoffnung und der Rettung. Zugleich verweisen die biblischen Texte auf die Breite der menschlichen Lebenswelt, auf die Erfahrung von Leben und Tod. 3.3 Nach neutestamentlichem Zeugnis ist ein Teil dieser Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel das Leben und das Wirken Jesu von Nazareth. Jesus verkündigte die Nähe der kommenden Gottesherrschaft. Jesus war und blieb Jude. Ihm ging es darum, den Willen Gottes unmittelbar zur Geltung zu bringen; darin stand er in der Tradition der biblischen Propheten. Gleichzeitig beanspruchte er, die wahre Intention der Tora aufzudecken; darin stand er in der Tradition der Schriftgelehrten und Weisheitslehrer. In bestimmten Situationen nahm er für sich aber auch in Anspruch, Positionen der religiösen Tradition und einzelne Aussagen der zeitgenössischen Tora- Interpretation im Horizont der kommenden Herrschaft Gottes infragestellen zu können. Jesus provozierte damit Konflikte mit religiösen und politischen Autoritäten seiner Zeit. Die Überlieferung läßt das deutlich werden beispielsweise an Jesu Umgang mit dem Sabbatgebot (Mk 2,23-28), an seiner Kritik an der Unterscheidung von ‘rein und unrein’ (Mk 7,1 -23), an seiner Ablehnung der Praxis der Ehescheidung (Mk 10,2-12), vor allem aber an seiner Ankündigung der nahen Königsherrschaft Gottes (Lk 6,20; 10,9). Jesu Tod am Kreuz, wieviel Mißverständnis und menschlicher Irrtum auch immer daran beteiligt gewesen 29 sein mögen, lag in der Konsequenz seiner Verkündigung und seines Lebens. 3.4 Jesu Tod bedeutete nicht sein Ende; der christliche Glaube bekennt und bezeugt, daß der gekreuzigte Jesus nicht im Tode blieb, sondern daß Gott ihn von den Toten auferweckt hat. Aus dem Kreis derer, die Jesus in Galiläa und in Jerusalem als seine Jüngerinnen und Jünger gefolgt waren, wurde alsbald das Bekenntnis laut: Jesus ist von den Toten auferstanden (Lk 24,34). Sie sprachen ihren Glauben aus: Gott hat Jesus von den Toten auferweckt (Röm 10,9) und so den Gekreuzigten ins Recht gesetzt; damit hatte es sich erwiesen, daß der irdische Jesus eine unvergleichliche Vollmacht besessen hatte. Der auferstandene Jesus wird mit biblischen, jüdischen Hoheitstiteln als der Herr, als der Messias, als der Christus geglaubt. Sein Tod wird mit Hilfe biblischer, „alttestamentlicher“ Kategorien verstanden als stellvertretendes Sterben für die Sünden der Menschen (Röm 3,25), als ein Sterben „gemäß den Schriften“, wie es in dem von Paulus zitierten Bekenntnis 1 Kor 15,3b heißt. Die an Jesu Auferweckung Glaubenden tragen diese Botschaft hinein in ihr Volk Israel. 3.4.1 Die ersten „Christen“ waren Juden; sie waren davon überzeugt, daß eben derselbe Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat und der Israel durch die Geschichte hindurch führt, nun an Jesus Christus und durch ihn gehandelt hatte. Sie erwarteten die baldige Ankunft des Auferstandenen vom Himmel her. Sie erwarteten, damit verbunden, das Endgericht und den Anbruch der neuen Schöpfung. Sie verstanden also Jesu Auferweckung als das eschatologische Ereignis. Im Glauben an die Auferstehung Jesu und im Vertrauen auf die von ihnen erfahrene Gegenwart des Geistes Gottes (Apg 2) sahen sie sich dazu legitimiert, neue Wege zu gehen. Dies zeigte sich insbesondere im Kreis um Stephanus in einer gewissen kritischen Distanz gegenüber der auf die Tora und den Jerusalemer Tempel bezogenen religiösen Tradition (Apg 6-7). 30 3.4.2 Die an Jesu Auferweckung durch Gott glaubenden Juden sahen sich selbstverständlich als Teil des Volkes Israel. Zugleich begriffen sie sich aber auch, ähnlich wie beispielsweise die zur gleichen Zeit in Qumran am Toten Meer lebende jüdische Gemeinde, als eine besondere Gemeinschaft innerhalb Israels. Das Handeln Gottes am gekreuzigten Jesus war für sie der Zielpunkt der Gottesgeschichte. Dies war eine Glaubensaussage, die für das Selbstverständnis der jüdischen Mehrheit eine Herausforderung darstellte. 3.4.3 Die an Jesu Auferweckung glaubenden Juden verstanden sich in besonderer Weise als „Gemeinde, Kirche“, als ‘ekklesia’ (Apg 8,3). 3.4.3.1 Das Wort ‘ekklesia’ kann sowohl die einzelne Gemeinde als auch die Kirche als ganze bezeichnen und entsprechend übersetzt werden. In der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel bezeichnet ‘ekklesia’ die religiöse Gemeinschaft Israels. In der griechischen Alltagssprache bezeichnete das Wort die politische Gemeindeversammlung; um diesem Verständnis gegenüber ihr besonderes Selbstverständnis zum Ausdruck zu bringen, sprach die Kirche entsprechend alttestamentlichem Sprachgebrauch von sich betont als von der „Gemeinde Gottes“ (Gal 1,13 und sehr oft; nur in Röm 16,16 spricht Paulus von den „Kirchen Christi“). In dem betonten Bezug zu Gott kommt zum Ausdruck, daß die Gemeinde sich nicht aus eigenem Entschluß konstituiert, sondern daß sie sich der Berufung durch Gott verdankt. 3.4.3.2 Das in der Antike sehr häufig gebrauchte Bild von einer Gemeinschaft als einem „Leib“ überträgt Paulus auf die christliche Gemeinde (1 Kor 12; vgl. Röm 12,4-8). Die christliche Gemeinschaft dieses Leibes, in dem alle Glieder zwar unterschiedliche Funktionen ausüben, dabei aber untereinander gleichberechtigt sind, wird von ihm an einer Stelle sogar als „Leib Christi“ bezeichnet (1 Kor 12,27). In der Studie „Die Kirche Jesu Christi“ heißt es dazu (S.24): „Das biblische Bild des Leibes drückt aus, wie die Kirche lebt und worin sie Be- 31 stand hat. Kirche ist die Gemeinschaft von Gliedern, deren Einheit untereinander in der Einheit mit Christus begründet ist (1 Kor 12,12f). Die Gemeinschaft der Glieder lebt darin, daß alle gleichberechtigt gemäß der Verschiedenheit der ihnen von Gott verliehenen Gaben dem Aufbau der Gemeinde dienen (1 Kor 12,12-31; Röm 12,4-8).“ In der Rede vom Leib Christi wird ausgesagt, daß diese Gemeinde zu verstehen ist als jene Gemeinschaft, in der der auferstandene und erhöhte Christus als der die Lebensvollzüge der Glaubenden bestimmende Herr gegenwärtig ist. Im Kolosser- und im Epheserbrief wird dieses Bild weiterentwickelt hin zur Vorstellung von der Kirche als dem Leib und Christus als dem Haupt dieses Leibes. 3.5 Das Selbstverständnis der jüdischen Christusgläubigen, ‘Kirche Gottes’ zu sein, trennte sie nicht vom Volk Israel. Die Christusgläubigen waren und blieben Juden. Sie lebten in der Erwartung, auch die anderen Juden würden von der Wahrheit des Christusbekenntnisses überzeugt werden. Dies führte zu Konflikten zwischen Juden, die an die Auferweckung des Gekreuzigten durch Gott glaubten, und anderen Juden, die diese Botschaft ignorierten oder sie verwarfen. Diese, die jedenfalls die große Mehrheit bildeten, versuchten auf unterschiedliche Weise, die Christusgläubigen zum Schweigen zu bringen. Paulus sagt von sich, er habe als Pharisäer das Ende der Jesusbewegung gewaltsam herbeiführen, „die Kirche zerstören“ wollen (Gal 1,13.14; vgl. 1 Kor 15,9). Die Umkehr von diesem Weg der Verfolgung bedeutete für Paulus zugleich seine Berufung zum Verkündiger des Evangeliums. 3.6 Die an Jesu Auferweckung glaubenden Juden kamen zu der Erkenntnis, die Christusbotschaft sei nicht nur innerhalb des Volkes Israel zu predigen, sondern darüber hinaus auch den Völkern, den „Heiden“, zu verkündigen. Die Erzählung von der Bekehrung und der Taufe des Hauptmanns Cornelius durch den Apostel Petrus (Apg 10) beschreibt anschaulich, wie in der Missionssituation die traditionelle Unterscheidung von ‘rein’ und ‘unrein’ und damit die Unterscheidung von Juden und Heiden ihre zentrale Bedeutung verliert. Der Apostel Paulus, 32 von Gott zum Verkündiger des Evangeliums Christi bei den Heiden berufen (Gal 1,15.16), begründet das Recht zur Heidenmission nicht nur mit seinem besonderen Missionsauftrag (Gal 1,15-17), sondern auch mit der Aussage, daß der Eine Gott „nicht nur Gott der Juden, sondern auch Gott der Heiden“ ist (Röm 3,29; vgl. Röm 15,8 -11). So kam es zu der zunächst durchaus nicht unumstrittenen Entscheidung, daß die aus den Völkern kommenden Christusgläubigen nicht Juden zu werden brauchten, daß sie also die besonderen, die Identität des Volkes Israel bestimmenden Verpflichtungen der Tora, vor allem die Beschneidung, nicht zu übernehmen hatten, um zur ‘Kirche Gottes’ gehören zu können. Zugleich aber wird vor allem in der Apostelgeschichte immer wieder betont, daß sich Paulus in seiner Missionspredigt zuerst an die Menschen in den Synagogen wandte. Die Kirche wurde zu einer Gemeinschaft, in der Menschen aus dem Volk Israel und Menschen aus den Völkern miteinander leben sollten und konnten. Sie waren verbunden durch den Glauben daran, daß Gott an Jesus von Nazareth gehandelt hatte und daß Gott der gegenwärtig in Jesus Christus Handelnde ist. Dabei wird durch die Taufe verwirklicht, daß „Juden wie Griechen, Sklaven wie Freie, Männer und Frauen“ in Christus eine Einheit sind (Gal 3,28). 3.7 Spätestens im letzten Drittel des 1. Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung überstieg die Zahl der Christusgläubigen aus den Völkern („Heidenchristen“) die Zahl der Christusgläubigen aus dem Volk Israel; es wurde für die toratreuen „Judenchristen“ immer schwerer, ihr Judesein, einschließlich des Gehorsams gegenüber den Geboten der Tora, zu bewahren und zu leben. Es begann eine Entwicklung, in deren Verlauf die der Tora verpflichteten Judenchristen mehr und mehr an den Rand der Kirche gedrängt wurden. Die vor allem von Paulus betonte Erkenntnis, daß die Kirche stets Kirche aus Juden und Heiden ist, geriet in Vergessenheit. Zugleich sah sich die Kirche mehrheitlich nicht mehr in der Kontinuität mit dem biblischen und dem gegenwärtigen Israel; sie begann vielmehr, sich als Ablösung Israels zu verstehen. Schon im Hebräerbrief findet sich die Vorstellung, der „Erste Bund“ mit Israel sei als eine durch 33 das Christusereignis „überholte“ Größe zu verstehen (Hebr 8,6- 13). Im Matthäusevangelium wird ein historisches Ereignis wie die Zerstörung Jerusalems und seines Tempels durch die Römer im Jahre 70 als die Strafe Gottes für den Ungehorsam der Juden gedeutet (Matth 21,43; 22,7). 3.8 Gleichzeitig entwickelte sich ein deutlicher Unterschied zwischen Juden und Christen im Gebrauch der Heiligen Schriften Israels. Die vor allem seit der Zeit des ersten jüdischrömischen Krieges (66-70/73) ganz überwiegend außerhalb von Judäa und Galiläa existierende christliche Kirche hielt an der im Diasporajudentum verwendeten griechischen Fassung der biblischen Texte („Septuaginta“) im Wortlaut und im Umfang fest. Dagegen entschied sich das normativ werdende rabbinische Judentum dafür, allein die in hebräischer und aramäischer Sprache erhaltenen biblischen Schriften als verbindlich anzuerkennen, von denen dann neue griechische Übersetzungen angefertigt wurden. 3.8.1 Dementsprechend wurden Schriften wie die Bücher Jesus Sirach oder Weisheit Salomos und historische Werke wie die Makkabäerbücher in der christlichen Kirche als zur Bibel gehörig anerkannt, nicht aber im Judentum. Im rabbinischen Judentum wurde zudem die Vorstellung von der dem Mose am Sinai zusammen mit der schriftlichen Tora anvertrauten „mündlichen Tora“ weiterentwickelt. 3.8.2 In die lateinische Bibelübersetzung, die Vulgata, wurden über die Septuaginta hinaus noch weitere Schriften aufgenommen; so wuchs die Differenz noch weiter, obwohl der VulgataÜbersetzer Hieronymus nicht auf den griechischen, sondern wo immer möglich auf den hebräischen Wortlaut der Schriften zurückgriff. 3.8.3 Martin Luther folgte bei seiner Bibelübersetzung, entsprechend dem humanistischen Prinzip, daß man „zu den Quellen“ (ad fontes) zurückgehen müsse, dem hebräischen Originaltext des Alten Testaments; deshalb maß er den nur griechisch 34 überlieferten Schriften als „Apokryphen“ einen abgestuften Rang zu, auch wenn er sie in allen Bibelausgaben beibehielt. Damit gab es nun auch auf christlicher Seite die Einheit des biblischen Kanons nicht mehr, weil die römisch-katholische Kirche an der Vulgata festhielt. Ähnlich wie beim Neuen Testament, wo Luther im Unterschied zur Tradition drei Briefe (Hebräer-, Jakobus- und Judasbrief) aus theologischen Gründen ans Ende vor die Offenbarung des Johannes rückte, wählte er auch beim Alten Testament aus theologischen Gründen eine von der hebräischen Bibel abweichende Reihenfolge der Bücher: In der Luther-Bibel schließt das Alte Testament mit dem Zwölfprophetenbuch, also mit den eschatologischen Verheißungen des Maleachi-Buches (Mal 3,23f): „Siehe, ich will euch senden den Propheten Elia, ehe denn der große und schreckliche Tag des Herrn kommt. Der soll das Herz der Väter bekehren zu den Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern, daß ich nicht komme und das Erdreich mit dem Bann schlage.“ Die theologisch durchaus beabsichtigte Folge ist, daß der Anfang des Neuen Testaments mit Jesu Stammbaum im ersten Kapitel des Matthäusevangeliums und mit der Überlieferung von dem als Elia verstandenen Johannes dem Täufer unmittelbar an diese prophetischen Verheißungen anschließt. Die Sammlung der Heiligen Schriften Israels dagegen endet, theologisch ebenfalls bewußt, mit den zu den ‘Schriften’ gehörenden Chronik- Büchern, die mit dem Edikt des persischen Königs Kyros schließen, der den in Babylon gefangenen Israeliten die Rückkehr nach Jerusalem und den Wiederaufbau des Tempels ermöglicht (2 Chr 36,23): „Wer nun unter euch zu seinem Volk gehört, mit dem sei der HERR, sein Gott, und der ziehe hinauf.“ 4 Zur geschichtlichen Entwicklung der Abgrenzung zwischen Kirche und Israel 4.1 Die an Jesu Auferweckung glaubenden Juden und auch die Christusgläubigen aus den Völkern sahen sich zunächst ganz als Teil der Geschichte des biblischen Gottesvolkes Israel. 35 Deshalb war es für sie selbstverständlich, die vom Volk Israel als verbindliches Gotteszeugnis anerkannten heiligen Schriften zu verwenden. Dabei lasen sie – ähnlich wie andere zeitgenössische jüdische Gruppen – diese Schriften als bezogen auf ihre eigene Gruppe und ihren eigenen Glauben. Die Schriften halfen ihnen, die Ostererfahrung zu verstehen. Die Glaubenden verstanden nun die Aussagen dieser Schriften als auf Christus verweisend; und sie sahen sich selber als in der Kontinuität der in diesen Schriften bezeugten Geschichte Gottes mit seinem Volk stehend. Dementsprechend konnte auch der für das Selbstverständnis Israels charakteristische biblische Begriff ‘Volk Gottes’ als für die Gemeinschaft der an Jesu Auferweckung Glaubenden geltend verstanden werden; eine entsprechende ausdrückliche Formulierung im Neuen Testament findet sich an zwei Stellen (1Petr 2,9.10; Tit 2,14; vgl. Röm 9,25). Zugleich aber bedeutete dies, daß die frühe christliche Kirche nun begann, sich allein als das eigentliche Volk Gottes zu sehen. Dabei blieben die übrigen Glieder des Volkes Israel jedoch eingeladen, an Jesu Auferweckung durch Gott zu glauben; denn dieser Glaube wurde verstanden als die fortdauernde Teilhabe an der ungebrochenen und zugleich durch Gottes Handeln erneuert geglaubten Geschichte. 4.2 Dennoch wird die Geschichte der Beziehung zwischen der Kirche und dem Volk Israel schon früh zu einer Geschichte der Abgrenzung. Aussagen im Johannesevangelium lassen vermuten, daß Juden, die sich zu Jesus bekannten, aus der Synagoge ausgeschlossen wurden (Joh 9,22; 16,2). Bald aber wurde nun auch seitens der Kirche diese Abgrenzung vorangetrieben, bis hin zur Verachtung, schließlich sogar zur offenen Feindschaft und zum Haß, auch wenn damit in den ersten drei Jahrhunderten eine physische Bedrohung für die Juden noch nicht verbunden war. Erste Anzeichen für diese Entwicklung finden sich schon in antijüdischen Aussagen mancher Schriften des Neuen Testaments (vgl. 1 Thess 2,14-16; Matth 21,33-44; 27,25; Joh 8,44f). Dabei ist daran zu erinnern, daß Menschen wie der 36 Apostel Paulus und die Evangelisten Matthäus und Johannes selber Juden sind: Mit ihrer polemischen Abgrenzung von dem nicht an Christus glaubenden Judentum beanspruchen sie für sich die Kontinuität des jüdischen Traditionszusammenhangs, und sie versuchen, diese Kontinuität den anderen Juden zu bestreiten; es handelt sich also um einen zunächst innerjüdischen Konflikt. Im Grunde kann man es sogar als historisch erstaunlich bezeichnen, daß sich solche antijüdische Polemik nur in recht begrenztem Umfang im Neuen Testament findet. Eine durchgängig scharf polemische Schrift wie der im 2. Jahrhundert verfaßte „Barnabasbrief“, der immerhin einem Begleiter des Paulus zugeschrieben wurde, ist von der Kirche nicht ins Neue Testament aufgenommen worden. 4.3 In den ersten drei Jahrhunderten befaßte sich das rabbinische Judentum kaum mit der Kirche und dem Christentum, während es auf christlicher Seite neben einem werbenden Bemühen um Juden auch schärfste Polemik gegen sie gab. Einerseits wurden zahlreiche christliche Schriften „Gegen die Juden“ verfaßt; andererseits aber schwand auf seiten der Kirche weithin das Interesse, das gegenwärtige Judentum als eine geschichtlich existierende und theologisch bedeutsame Größe überhaupt noch zur Kenntnis zu nehmen. 4.3.1 Als im Laufe des 4. Jahrhunderts die staatlichen Christenverfolgungen im Römischen Reich endeten und das Christentum zunächst anerkannt und dann seit 381 Staatsreligion wurde, verbanden sich politische Interessen der römischen Kaiser und theologische Urteile der Kirche zu einer für die Juden weithin unheilvollen Allianz. In der römischen Gesetzessammlung des Codex Theodosianus aus dem Jahre 438 wurden den Juden erstmals besondere rechtliche Auflagen gemacht: Ihre bürgerlichen Rechte wurden beschränkt, und sie wurden von öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Andererseits behielten die Juden, im Unterschied zu den „Heiden“ und den christlichen Häretikern, ein Bleiberecht im Römischen Reich. 37 4.3.2 In den folgenden Jahrhunderten gab es in Europa lange Phasen des friedlichen Miteinanders von Christen und Juden. Europäische Herrscher stellten Juden nicht zuletzt aufgrund politischer und wirtschaftlicher Interessen unter ihren Schutz, gewährten ihnen Handels- und Gewerbefreiheit, Zugang zu Hofdienst und Bürgerrecht. Viele jüdische Gemeinden entstanden. In Mainz, Troyes und Worms wurden die Talmudschulen Zentren jüdischer Kultur und Wissenschaft. Eine tiefe Zäsur bildete der erste Kreuzzug von 1096; in dessen Zusammenhang wurden in bis dahin nicht gekanntem Ausmaße Juden ermordet und Synagogen zerstört. Zugleich wurden theologische Vorstellungen verstärkt aufgegriffen, denen zufolge die Existenz der Juden dazu diene, der christlichen Gemeinde Gericht und Verworfenheit vor Augen zu stellen. Es entstand der Gedanke, daß es richtig sei, die Juden einerseits rechtlich zu erniedrigen, andererseits aber ihr Leben zu schützen, damit durch ihre elende Existenz den Christen möglichst drastisch die Folgen der göttlichen Verwerfung anschaulich gemacht we rden könnten. 4.3.3 In der Zeit der Kreuzzüge wurde die physische Existenz der Juden in Europa zunehmend bedroht. Die rechtlichen Einschränkungen – Berufsverbote, Ghettoisierung, Verbot von Landbesitz, diskriminierende Kleidervorschriften – wurden immer drastischer. Die Aggressivität der religiös motivierten Vorwürfe nahm zu; Juden wurden des Ritualmords und des Hostienfrevels beschuldigt. In der Zeit der Inquisition kam es zu Massenhinrichtungen von zwangsgetauften Juden, die weiterhin an ihren Bräuchen festgehalten hatten. Im späten Mittelalter wurden die Juden aus den meisten Ländern und Städten West- und Mitteleuropas vertrieben. Wirtschaftliche Interessen, insbesondere der erstarkenden Zünfte, und religiöser Haß, geschürt insbesondere von den Predigern der Bettelorden, bildeten hierfür den Hintergrund. 4.3.4 Insgesamt gab es im Verhältnis zwischen Christen und Juden im Mittelalter große Ambivalenzen: Phasen der Tolerierung und der Koexistenz stehen solchen der Anfeindung, Ausgrenzung und Verfolgung gegenüber. Es wäre deshalb falsch, 38 das ganze christliche Mittelalter als eine ausschließlich durch ausgeprägte religiös oder gar „theologisch“ motivierte Judenfeindschaft bestimmte Epoche zu sehen. Zum Teil entsprach der Kampf der offiziellen Kirche gegen die Juden dem Kampf auch gegen die innerchristlichen „Ketzerbewegungen“; es gab auch Päpste und Lehrer der Theologie, die sich interessiert dem Judentum zuwandten und die sich sogar um Formen eines Dialogs bemühten. Dies führte aber nicht zu einem theologisch reflektierten positiven Verständnis des Judentums. 4.4 Die Haltung der Reformatoren gegenüber dem Judentum spiegelt das Spektrum der unterschiedlichen Möglichkeiten, die es als kirchliche und gesellschaftliche Praxis schon im ausgehenden Mittelalter gegeben hatte. 4.4.1 Martin Luther, dessen Predigten und Schriften immer wieder Ausdrucksformen zeitgenössischer Judenfeindschaft enthalten, verfaßte 1523 die Schrift „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“, in der er den Juden mit relativer Offenheit begegnete. Da er die Papstkirche für gänzlich ungeeignet hielt, Juden den christlichen Glauben zu vermitteln, war er von der Hoffnung erfüllt, sie würden jetzt für das durch die Reformation ans Licht gekommene Evangelium gewonnen werden. In der Anfangsphase der Reformation gab es im Gefolge Luthers sogar Ansätze für ein christlich-jüdisches Gespräch, verbunden mit einem zumeist literarischen Bemühen um die Missionierung von Juden. Ganz vereinzelt kam es zu Übertritten von Juden zum reformatorischen Christentum. Zugleich trug der Rückgriff auf die Bibel in Luthers Theologie dazu bei, daß er von seinen Gegnern als dem Judentum nahestehend bezeichnet wurde; man sprach von ihm als dem „Judenvater“. Als sich für Luther aber zeigte, daß seine Hoffnungen auf eine breite „Bekehrung“ von Juden zu Christus vergeblich gewesen waren, als chiliastische und antitrinitarische Strömungen aufkeimten und Tendenzen auftraten, den Sabbat anstelle des Sonntags zu feiern, fürchtete Luther den „Irrweg“ eines „neuen Judentums“, und er änderte seine Haltung: War er anfänglich noch bereit gewesen, die Juden im Blick auf ihre mögliche 39 Bekehrung zu dulden, so sah er in ihnen nun eine soziale, politische und religiöse Gefahr (Wucher, Türkenspionage, Proselytenmacherei) und riet von ihrer we iteren Duldung ab. In seiner ersten antijüdischen Schrift „Wider die Sabbater“ (1538) wandte er sich gegen die angebliche Blindheit, Lüge und Gotteslästerung der Juden. In der im Jahre 1543 verfaßten Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ wurde dann eine radikale apokalyptisch begründete Judenfeindschaft erkennbar: Er forderte, Synagogen und Schulen als „Orte der Lästerung“ anzuzünden, Häuser von Juden zu zerstören und die Bücher zu verbrennen und den Rabbinen das Lehren zu verbieten; darüber hinaus sollte aber auch das freie Geleit auf den Straßen aufgehoben, der „Wucher“ verboten und den Juden Gold und Silber weggenommen werden. Den Gedanken einer Judenmission verwarf Luther jetzt als aussichtslos. 4.4.1.1 Bei einigen reformatorischen Theologen stieß Luthers Haltung auf Ablehnung. Der Nürnberger Reformator Andreas Osiander distanzierte sich in einem Brief an den jüdischen Gelehrten Elias Levita von der Polemik Luthers, da sie unsachgemäß sei. Heinrich Bullinger, Nachfolger Zwinglis in Zürich, sah in Luthers Judenschriften den inquisitorischen Eifer des Mittelalters wieder aufflammen. Gleichzeitig benutze er antijüdisches Vokabular und warnte vor der Aufnahme von Juden in die Schweiz. 4.4.2 Auch Johannes Calvin sprach von den Juden als von Aufschneidern, Lügnern und Verfälschern der Schrift und nannte sie habgierig. Da er überwiegend in Regionen wirkte, in denen schon seit mehreren Jahrzehnten nur noch wenige Juden lebten, sah er das Verhältnis zum Judentum nicht als eine vordringliche Frage an. Dennoch disputierte er nach eigenem Zeugnis öfter mit Juden, und für die Auslegung des Alten Testaments nahm er auch zahlreiche jüdische Kommentare zur Kenntnis. Da er die Annahme zurückwies, alle alttestamentlichen Aussagen seien allein auf Christus hin zu deuten, wurde er als „Calvinus Judaizans“ bezeichnet. In einer um 1555 verfaßten Schrift setzte er sich intensiv mit jüdischen Disputati- 40 onsargumenten des Mittelalters auseinander. Calvin beschreibt den dem Volk Israel gewährten ‘Alten Bund’ oft als nahezu identisch mit dem in Christus allen Menschen gewährten ‘Neuen Bund’; Unterschiede zwischen beiden seien eher gradueller, nicht grundsätzlicher Art: Der neue Bund hebt den alten Bund nicht auf, sondern beide sind derselbe eine Gnadenbund in zwei unterschiedlichen Austeilungen (Institutio II, 10.2). Da auch „der Menschen Treulosigkeit“ den Gottesbund „nicht ins Wanken“ bringen könne, nähmen „die Juden als die Erstgeborenen der Familie Gottes den ersten Platz“ ein, doch könnten sie aus der Perspektive des Christusbekenntnisses nur als „Abtrünnige“ wahrgenommen werden. So spricht auch Calvin davon, daß die Kirche „an die Stelle der Juden gerückt“ und das Judentum also eigentlich eine Größe der Vergangenheit sei. Vor allem in seinen späten Predigten ist Calvins Haltung gegenüber dem Judentum von Ablehnung und Polemik bestimmt: Weil die Juden das Heil in Jesus Christus zurückgewiesen haben, seien sie mit Blindheit und Verderben geschlagen. Gleichzeitig sprach er aber auch davon, es gebe im jüdischen Volk einen Rest Erwählter, um derentwillen man die Juden nicht verachten oder gar mißhandeln dürfe. 4.4.3 Nur wenige Anhänger der Reformation nahmen eine konsequent judenfreundliche Haltung ein. Zu ihnen gehörten der Straßburger Reformator Wolfgang Capito und der Basler Theologieprofessor Martin Borrhaus. Sie glaubten an eine endzeitliche Bekehrung ganz Israels und verlangten von den Christen einen freundlichen Umgang mit den Juden. Der ebenfalls in Basel lebende christliche Humanist Sebastian Castellio forderte sogar bereits ausdrücklich religiöse Toleranz. 4.4.4 Im ganzen muß man sagen, daß die Reformation fast überall die spätmittelalterlichen Judenvertreibungen bestätigte oder sogar zu neuen Vertreibungen führte. Nur selten, z.B. in Frankfurt a. M. und in Fürth, lebten in protestantischen Territorien Deutschlands noch Juden. Katholische Obrigkeiten waren, wenn auch aus überwiegend wirtschaftlichen Interessen, im 16. Jahrhundert toleranter. Ein bedeutendes Zentrum jüdischen 41 Lebens wurden die reformierten Niederlande, und zu neuen Zentren entwickelten sich das katholische Prag und das katholische Polen. 4.5 Im Konfessionellen Zeitalter des späten 16. und des 17. Jahrhunderts gab es unter protestantischen Theologen vereinzelt ein gelehrtes Interesse am Judentum. In der lutherischen Orthodoxie wurde über die Frage, ob christliche Obrigkeiten Juden tolerieren dürften und ob eine große endzeitliche Judenbekehrung zu erwarten sei, kontrovers diskutiert. Es überwog eine distanzierte Grundhaltung, wobei man sich auch auf Luthers judenfeindliche Schriften berief. Vereinzelt wurde gefordert, Juden sollten zum Besuch evangelischer Predigtgottesdienste gezwungen werden. Judentaufen waren seltene Ereignisse, und organisierte missionarische Anstrengungen gab es nicht. 4.5.1 Anders als in Deutschland wurden in den Niederlanden und in England starke philosemitische Strömungen lebendig. Eine Folge war, daß unter Oliver Cromwell den Juden die Wiederansiedlung in England erlaubt wurde. In den Niederlanden fanden in einer freien Atmosphäre christlich-jüdische Religionsgespräche statt; die reformierte Föderaltheologie regte eine neue, positive theologische Sicht Israels an. 4.5.2 Im Pietismus wurde vielfach, auch in Anknüpfung an den jungen Luther, ein freundlicher Umgang mit den Juden gefordert. Die Christen sollten den Juden ein positives Beispiel geben und sie so zur Bekehrung reizen. Diese Haltung wurzelte in der pietistischen Eschatologie, die allgemein mit einer großen endzeitlichen Judenbekehrung rechnete. Ausgehend von Halle und von Herrnhut wurde mit einer aktiven Judenmission begonnen. Dieses missionarische Bemühen führte dazu, daß sich Christen stärker als zuvor für die Juden interessierten, ihre Sprache lernten und sich mit ihren religiösen Bräuchen und Lebensumständen befaßten; dies trug zum Abbau von Vorurteilen bei. 42 Trotz dieses neu aufgekommenen christlichen Missionseifers konnten Juden, die Christen werden wollten, nicht unbedingt damit rechnen, von den Landeskirchen akzeptiert, unterrichtet und getauft zu werden. Viele jüdische Taufbewerber wurden abgewiesen; getaufte Juden wurden in der Regel nicht in die christliche Gesellschaft integriert, sondern mußten häufig als Bettler von Ort zu Ort ziehen und wurden zeitlebens mit ihrer Herkunft aus dem Judentum behaftet. An der Universität Halle traten Pietisten und Aufklärer mit Gutachten für die Tolerierung der jüdischen Minderheiten ein und bekämpften antijüdische Vorurteile. Der radikale Pietismus zeigte sogar eine ausgeprägte Judenfreundlichkeit, die Bereitschaft zur Toleranz und ein besonderes Interesse an jüdischer Lehre und Leben. In der Landgrafenschaft Hessen-Darmstadt wurden gegen Ende des 17. Jahrhunderts Juden zum Universitätsstudium in Gießen zugelassen und der Bau von Synagogen genehmigt; in Hessen- Kassel wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts Rabbinen in der Universitätsausbildung eingesetzt. 4.5.3 Der Anstoß zur Judenemanzipation ging allerdings nicht von kirchlichen Kreisen, sondern von der antikirchlichen Aufklärung aus; bahnbrechend war dabei die Französische Revolution von 1789. In Deutschland widersetzten sich reformatorische Theologen und Kirchen im 19. Jahrhundert überwiegend der Judenemanzipation. Selbst rationalistische und liberale Theologen traten nur selten für sie ein, und sie verachteten das Judentum ihrer Zeit wegen seiner angeblich dem äußerlichzeremoniellen verhafteten Religiosität. Ein freundliches Interesse an den Juden hatten, in der Tradition des Pietismus, viele Angehörige der Erweckungsbewegungen; es verband sich allerdings mit einem starken missionarischen Impetus, den bald auch konfessionalistische Kreise teilten. Nach einem Londoner Vorbild wurden zahlreiche Judenmissionsgesellschaften gegründet. Vereinzelt wurden Angehörige der Erweckungsbewegungen zu Bundesgenossen des Zionismus und Wegbereitern der zionistischen Kolonisation Palästinas. Die protestantische Theologie wurde im
  2. Jahrhundert in Deutschland erstmals durch eine neu entstehende moderne 43 jüdische Theologie herausgefordert. Vereinzelt kam es zu jüdisch- christlichen Begegnungen und sogar zu Formen von Kooperation: Protestantische Pfarrer besuchten jüdische Gottesdienste, 1837 erschien für kurze Zeit eine gemeinsam von Protestanten, Katholiken und Juden herausgegebene „Kirchenzeitung“. Im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelte sich dann aber in konfessionalistischen und christlich-sozialen Kreisen eine neue Form von Judenfeindschaft durch die Verbindung mit dem inzwischen aufgekommenen rassistischen Antisemitismus. 4.6 Mit Beginn des 20. Jahrhunderts entstand sowohl in Teilen des deutschen Judentums, etwa bei Franz Rosenzweig und Leo Baeck, wie auch auf christlicher Seite erneut ein theologisches Interesse, sich wechselseitig wahrzunehmen. Joseph Klausner schrieb die erste große jüdische Darstellung des Lebens Jesu. Der Religionsphilosoph Martin Buber führte in den Jahren 1928-1933 im Lehrhaus in Stuttgart Gespräche mit nichtjüdischen Philosophen und mit christlichen Theologen. In Großbritannien befaßte sich der jüdische Gelehrte Claude Montefiore eingehend mit dem Neuen Testament und schrieb Kommentare zu neutestamentlichen Schriften. 4.7 Der Machtantritt der Nationalsozialisten und die sofort einsetzende – freilich nicht religiös, sondern „rassisch“ begründete, von den christlichen Kirchen aber im wesentlichen tatenlos hingenommene und zum Teil von den „Deutschen Christen“ sogar befürwortete – Judendiskriminierung und -verfolgung machten in Deutschland alle solche Ansätze zunichte. Einige Theologen zeigten sogar eine ausgeprägte Nähe zur nationalsozialistischen Ideologie; sie bemühten sich, die Judenfeindschaft und den Antisemitismus „wissenschaftlich“ zu untermauern. Die Frage, ob der „Arierparagraph“, der Juden von allen Ämtern ausschloß, auch in der Kirche Geltung erhalten sollte, wurde im Sommer 1933 kontrovers diskutiert und in theologischen Gutachten unterschiedlich beantwortet; es entstand die Bekennende Kirche, die sich der von den Nationalsozialisten angestrebten „Gleichschaltung“ der Kirchen wider- 44 setzte. Eine intensive Beschäftigung mit jüdischer Tradition und jüdischer Gegenwart gab es aber selten. 4.8 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam es in einzelnen europäischen Ländern zu antijüdischen Übergriffen, und bis heute gibt es in vielen Ländern einen immer wieder aufkeimenden offenen oder verdeckten Antisemitismus. Bei der Gründung des Weltkirchenrats 1948 in Amsterdam wurde eine Erklärung gegen den Rassismus verabschiedet und dabei auch allen Formen des Antisemitismus eine Absage erteilt. Seit den 60er Jahren wächst in Theologie und Kirche allmählich die Bereitschaft, das Gespräch mit Juden zu suchen. Dabei wird respektiert, daß es innerhalb des Judentums eine erhebliche Reserve oder auch Ablehnung solcher Gespräche gibt. Die christliche Theologie bemüht sich zunehmend darum, allen Formen des Antisemitismus deutlich entgegenzutreten und zugleich die Besinnung auf das Verhältnis der Kirche zum Volk Israel als eine theologische Aufgabe zu begreifen. 4.9 Der Rückgriff auf die Geschichte der Kirche und insbesondere auch auf die Geschichte der christlichen Theologie zeigt, daß es im theologischen Nachdenken über das Judentum und über die besondere Beziehung zwischen der Kirche und Israel fundamentale Defizite gab. Auch Mängel in der kirchlichen Lehre – im Bereich des Schriftverständnisses, der Gotteslehre, aber auch der Christologie – haben wesentlich dazu beigetragen, daß es in vielen reformatorischen Kirchen gegenüber den Verbrechen des Nationalsozialismus keinen wirksamen Widerstand gab. Angesichts dieser Erfahrungen besteht, unbeschadet der besonderen deutschen Verantwortung, für alle Kirchen die Notwendigkeit zu einer dogmatisch reflektierten Neubestimmung ihres Verhältnisses zu Israel. 45 Teil II Die Kirche und Israel 1 Theologische Versuche einer Klärung der Beziehung zwischen Kirche und Israel Im Kontext des christlich-jüdischen Gesprächs nach 1945 hat es in der christlichen Theologie unterschiedliche Versuche gegeben, das Verhältnis der Kirche zu Israel sachgemäß zu bestimmen. Einige besonders wirksam gewordene theologische Denkmodelle sollen im folgenden dargestellt und dann in einem zweiten Schritt jeweils kritisch befragt werden. Dabei wird von der Erkenntnis ausgegangen, daß Israel ein unausweichliches und bleibendes Thema der theologischen Selbstbesinnung und des Selbstverständnisses des Christentums ist. Ferner ist die Einsicht leitend, daß die Vorstellung, Israel als Volk Gottes sei durch die Kirche abgelöst worden, von Grund auf unsachgemäß ist. Dies nicht nur deshalb, weil sich Israel aufgrund seiner Glaubens- und Wahrheitsgewißheit unverändert als Volk Gottes sieht, sondern vor allem deshalb, weil der christliche Glaube selber das Christusgeschehen und die Erwählung der Kirche nicht als das Hinfälligwerden der Verheißungen Gottes an Israel, sondern als den Erweis seiner Treue zu ihnen versteht. Alle im folgenden vorgestellten Ansätze setzen daher mit Recht voraus, daß die Theorie der „Enterbung“ Israels bzw. der „Ablösung“ Israels durch die Kirche falsch ist. 1.1 Die Vorstellung der „zwei Wege“ 1.1.1 In einer sehr frühen – bis heute nachwirkenden – Phase des christlich-jüdischen Gesprächs nach 1945 wurde die Vorstellung zweier nebeneinander verlaufender Heilswege formuliert: Die beiden Wege haben ihren gemeinsamen Bezugspunkt in dem Einen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs; für Israel ist der Weg zu d iesem Gott die Tora, für die Völker ist es Christus. 46 1.1.2 Die Rede von den „zwei Wegen“ will betonen, daß Israels Weg mit Gott gegenüber dem christlichen Weg nicht abgewertet werden darf. Der christliche Glaube kann im Blick auf Gottes Offenbarung und im Blick auf Gottes Heilswillen allerdings nicht einfach von einem unverbundenen Nebeneinander zweier Wege sprechen. Er muß vielmehr die Bedeutung Jesu Christi für beide, die Juden und die Menschen aus den ‘Völkern’, in den Blick nehmen; dabei hat er jedoch zu berücksichtigen, daß sich diese Bedeutung schon im Neuen Testament und auf andere Weise auch in der Gegenwart unterschiedlich darstellt, insofern Juden den einen lebendigen Gott schon kennen, während er den Menschen aus der Völkerwelt erst bekanntgemacht werden muß (1 Thess 1,9f). Die Theorie der „zwei Wege“ übersieht auch, daß das Christentum seinen Ausgangspunkt innerhalb des Judentums hatte und aus ihm hervorgegangen ist. Es hat von allem Anfang an Juden gegeben, die Jesus von Nazareth als ihren Messias/Christus bekannt haben, und es gibt sie auch heute. 1.2 Die Vorstellung des „ungekündigten Bundes“ und der Hineinnahme in den Einen Bund 1.2.1 Die an Martin Buber anknüpfende Rede vom „ungekündigten Bund“ war auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag in Berlin im Jahre 1961 das Thema der dort gegründeten Arbeitsgemeinschaft „Juden und Christen“. Vom ungekündigten Bund sprechen auf unterschiedliche Weise zahlreiche Synodalerklärungen deutscher Landeskirchen und jetzt auch mehrere Kirchenverfassungen. In den im Jahre 1990 verabschiedeten Leitsätzen des Reformierten Bundes „Wir und die Juden – Israel und die Kirche“ heißt es im Leitsatz II: „Gott hat seinen Bund mit Israel nicht gekündigt. Wir beginnen zu erkennen: In Christus Jesus sind wir, Menschen aus der Völkerwelt – unserer Herkunft nach fern vom Gott Israels und seinem Volk –, gewürdigt und berufen zur Teilhabe an der Israel zuerst zugesprochenen Erwählung und zur Gemeinschaft im Gottesbund.“ Damit soll die Einsicht ausgesprochen werden, daß der durch 47 die Offenbarung in Christus begründete ‘Neue Bund’ (1 Kor 11,25; Hebr 9,15; 12,24) nicht ein zweiter Bund ist, sondern der in Jer 31 verheißene erneuerte Bund und somit eine Bestätigung und eine – über den Bund mit Israel hinausgehende – weitere Entfaltung des von Gott mit Israel geschlossenen Bundes. 1.2.2 Der Gedanke des einen, ungekündigten Bundes betont, daß die Gemeinschaft der an Christus Glaubenden sich dem Erwählungshandeln Gottes verdankt, das mit der Erwählung Israels begonnen hat: Gott gibt den an ihn glaubenden Menschen aus der Völkerwelt Teil an seinem Heil; das kann die Kirche nur dankbar und Gott preisend aussprechen. Die These vom ungekündigten Einen Bund läßt jedoch offen, wie das Verhältnis Israels als Volk Gottes zur Kirche als Volk Gottes theologisch zu denken ist. Zum einen ist es unzureichend, wenn die Kirche ausschließlich als „Kirche aus der Völkerwelt“ gesehen wird. Zum andern bleibt der Charakter der in Jer 31 verheißenen und in Christus als geschehen geglaubten Erneuerung des Bundes unbestimmt. Der Denkansatz, das Wort „neu“ im Reden vom ‘Neuen Bund’ lediglich im Sinne von „erneuert“ zu verstehen, wird zudem der Aufnahme und Interpretation von Jer 31 im Neuen Testament nicht gerecht (vgl. die Abendmahlsworte bei Paulus und im Lukasevangelium, ferner Hebr 8). Eine zureichende Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis des ‘neuen Bundes’ zum ‘alten Bund’ wird hier nicht gegeben. 1.3 Die Übernahme des Gedankens der „Völkerwallfahrt zum Zion“ 1.3.1 In Anknüpfung an die in Jesaja 2 und in Micha 4 ausgesprochene Erwartung der endzeitlichen Wallfahrt der Völker zum Zion wird darauf verwiesen, daß Juden und Christen eine gemeinsame Verheißungs- und Hoffnungstradition teilen. Von daher wird versucht, das Verhältnis zwischen Israel und den Völkern und damit auch das Verhältnis des Volkes Gottes 48 Israel zur Kirche als Volk Gottes näher zu bestimmen: Die Kirche ist in die Verheißungsgeschichte Israels hineingenommen, und das wird verstanden als Beginn der Erfüllung jener prophetischen Erwartung. 1.3.2 Mit diesem Denkansatz wird die Verbindung zu einer fundamentalen Hoffnungsaussage Israels hergestellt: Die auch vom Neuen Testament benannten Vorzüge Israels (Röm 9,4f) bleiben anerkannt; die Völker werden als „Miterben der Verheißung“ verstanden. Auch hier kommt also der Gedanke in den Blick, daß die Kirche sich dem Erwählungshandeln Gottes verdankt, daß sie sich neben dem Volk Israel auf dem Weg zu einem gemeinsamen Ziel sieht. Die Gefahr auch dieses Denkansatzes besteht aber darin, daß die Kirche als eine ausschließlich „heidenchristliche“ Kirche definiert werden könnte. Ungeklärt bleibt darüber hinaus, wie das Verhältnis der in Christus erwählten „Völkerkirche“ zu den Weisungen der Tora zu bestimmen ist: Die prophetische Erwartung von der Völkerwallfahrt zum Zion schließt ausdrücklich den Gedanken ein, daß am Ende aller Zeit die Tora von allen Völkern als die gültige Weisung Gottes anerkannt werden wird (Micha 4,2; Jes 2,3f); dies wirft nicht zuletzt Fragen auf hinsichtlich des Verständnisses paulinischer Aussagen zur Geltung der Tora für die an Christus Glaubenden (vgl. Röm 10,4). 1.4 Der Gedanke des Einen Gottesvolkes aus Israel und Kirche 1.4.1 Es ist der Versuch unternommen worden, ausgehend von dem spezifischen Singular ‘Volk Gottes’ von einer inneren Differenzierung des Volk-Gottes- Verständnisses zu sprechen. Damit soll zweierlei zusammengehalten werden: Die Souveränität des erwählenden und sich erbarmenden Gottes, der alles zu seinem Ziel führen und am Ende „alles in allem“ sein wird (1 Kor 15,28), und die Erfahrung der Trennung zwischen dem ursprünglichen Gottesvolk Israel und der in dessen Mitte ent- 49 standenen Kirche, die sich – weil in gleicher Erwählung wurzelnd – ebenfalls als Volk Gottes sieht. 1.4.2 Dieses Denkmodell beruft sich wesentlich auf Röm 9-11. Es nimmt den Schmerz auf, den Paulus über die Ablehnung der Christus-Botschaft durch die ‘Israeliten’ empfindet und ausspricht (9,1-5; 10,1-4), und es nimmt die Gewißheit des Paulus auf, daß die gegenwärtige „Verstockung“ der nicht an Christus Glaubenden nicht deren endgültige Verwerfung bedeutet (Röm 11,23). Dabei droht aber die Gefahr, daß die Bedeutung des Christusereignisses reduziert wird; die Beziehung Christi zu Israel bleibt offen, bzw. es deutet sich der Gedanke an, das Christusgeschehen habe Heilsbedeutung allein für die Menschen aus den Völkern, nicht aber für Israel. Eine ähnliche kritische Anfrage gilt gegenüber der Rede von dem Israel und die Kirche umfassenden „gespaltenen Gottesvolk“. Beide Denkansätze werden den Aussagen, die Paulus in Röm 9-11 im ganzen macht, nicht in vollem Umfang gerecht. 1.5 Ergebnis Die unterschiedlichen Bemühungen um eine Klärung des Verhältnisses von Kirche und Israel, insbesondere mit Blick auf die Frage nach dem ‘Bund’ und mit Blick auf die Rede vom ‘Volk Gottes’, sind Stationen eines noch unabgeschlossenen theologischen Denkweges. Sie haben die Kirche, ihre Theologie und ihre Spiritualität, bereichert. Sie haben Impulse gegeben für den inneren Dialog der Kirchen; und sie haben Menschen dazu ermutigt, miteinander über eine positive Sicht Israels nachzudenken. Die Kirche wird deshalb diesen Weg fortsetzen und weiter nach Möglichkeiten suchen, wie sie ihre Identität im Gegenüber zu Israel zu bestimmen und zu verstehen vermag. Dabei muß sich jede Antwort daran messen lassen, ob sie zum einen den in der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments bezeugten Aussagen über die Erwählung Israels durch Gott und 50 die Erwählung der Kirche in Jesus Christus gerecht wird, und ob sie zum andern den besonderen Weg Gottes mit seinem Volk Israel ernstnimmt 2 Israel und die Kirche in der christlichen Lehre Die Selbstoffenbarung des Gottes Israels in Jesus Christus und die durch den Heiligen Geist geschaffene Gewißheit des Glaubens ist Grund und Gegenstand des christlichen Bekenntnisses. Daraus ergibt sich für die Kirche die Notwendigkeit, ihr Verhältnis zu Israel theologisch zu bestimmen. In der christlichen Lehre wird der Inhalt der Christusoffenbarung entfaltet. Diese selbst gibt den Blick frei auf den Ursprung von Glaube und Kirche in dem Erwählungshandeln Gottes, das mit der Erwählung Israels beginnt. Da dieses Gotteshandeln die unlösliche Verbundenheit der Kirche mit Israel begründet, muß diese Verbundenheit ein durchgängiges Thema der christlichen Lehre sein. Das soll im folgenden Teil der Studie gezeigt werden: Dem Wesen des christlichen Glaubens entsprechend wird zuerst das Verständnis der Offenbarung des Gottes Israels in Jesus Christus bedacht (2.1). Das Bekenntnis zur Wahrheit dieser Offenbarung führt zur Frage nach der christlichen Auslegung der Heiligen Schriften Israels (2.2) und zur Frage nach dem christlichen Gottesverständnis (2.3). Es schließen sich Überlegungen zum christlichen Verständnis von Gottes erwählendem Handeln (2.4) und zum christlichen Verständnis der Kirche als „Volk Gottes“ (2.5) an. 2.1 Die Offenbarung des Gottes Israels in Jesus Christus 2.1.1 Der christliche Glaube versteht die Christusoffenbarung als den entscheidenden Akt im erwählenden Handeln Gottes (Gal 4,4; Hebr 1,1 -4). Christen glauben und bezeugen, daß das Christusgeschehen das letztgültige Offenbarungshandeln Gottes darstellt; darum begreifen sie es als das „eschatologische 51 Ereignis“ (vgl. 2 Kor 6,2): Sie bekennen, daß Gott, der Schöpfer, in der Welt wirkmächtig gegenwärtig ist im Heiligen Geist. Dieser schafft durch die Verkündigung des Evangeliums, durch die Predigt und durch die Feier der Sakramente das Heil der Gemeinschaft mit Christus und so mit dem Schöpfer und mit allen Geschöpfen. Christen erwarten die Parusie als die alle Geschichte vollendende Ankunft Christi als des Weltenrichters. 2.1.2 Der Glaube an die Offenbarung Gottes in Christus richtet sich auf ein geschichtliches Ereignis: In der Ostererfahrung wird der Gekreuzigte als der Auferstandene (1 Kor 15,5-8; Lk 24,34), als der zu Gott Erhöhte (Phil 2,9), sichtbar. Die Glaubenden werden von der Wahrheit ergriffen, daß in diesem Christus Jesus die Gottesherrschaft schon die Gegenwart bestimmt (1 Kor 15, 25-28; vgl. 2 Kor 4,6). Im Licht der österlichen Ereignisse erkennt der Glaube, daß das am Kreuz vollendete Lebenszeugnis des Christus die Erfüllung der zentralen Erwartung Israels ist: Gott kommt zu seiner Herrschaft. Die Offenbarung Gottes in Christus setzt also das ihr voraufgehende Erwählungs- und Offenbarungsgeschehen voraus, bestätigt, vertieft und erweitert es. 2.1.3 Der im Christusgeschehen von Gott gesetzte „Neue Bund“ (1 Kor 11,25) steht im Zusammenhang der in den Heiligen Schriften Israels bezeugten Bundesschlüsse; er wird von Christen geglaubt als das endgültige, nicht überbietbare Gotteshandeln für das Volk Israel und für die Menschen aus der Völkerwelt. So bedeutet der Glaube an Gottes Selbstoffenbarung im Christusgeschehen die Bestätigung und Bekräftigung der vorangegangenen Offenbarungen Gottes: Unverändert in Geltung steht die Hinwendung Gottes an seine Geschöpfe im Noah-Bund (Gen 8f). Unverändert in Geltung steht das erwählende Handeln Gottes, durch welches das Volk Israel konstituiert und erhalten wird und durch welches ihm seine Rolle in der und für die Völkerwelt zugewiesen wird, der Bund mit Abraham (Gen 15,7-18; 17,1-16) und der am Sinai geschlossene Bund mit Israel (Ex 24,1 -11; 34,1-28). 52 Diese Bestätigung des Bundes bedeutet nach christlichem Verständnis zugleich seine Erneuerung, die ihn vertieft und erweitert. Unter Aufnahme der alttestamentlichen Einsicht, daß Gott selbst die Gerechtigkeit schafft (vgl. Gen 15,6), wird der Bund insofern vertieft, als Gott die Gerechtigkeit schafft, die vor ihm gilt, indem er selbst in Christus die Sünder mit sich versöhnt (2 Kor 5,19.21). Der Bund wird mit seiner Erneuerung insofern erweitert, als der erneuerte Gottesbund offensteht „allen, die daran glauben, den Juden zuerst und ebenso den Griechen“ (Röm 1,16). 2.1.4 Das Bekenntnis „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich“ schließt das Bekenntnis zur Person Jesu als des „Christus“, als des „Sohnes Gottes“ und als Inkarnation des schöpferischen Wortes Gottes ein (Joh 1,14). Dieser Gehalt des Glaubens an Jesus kommt in dem Bekenntnis zur Sprache: Jesus ist „wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch“ (vere Deus – vere homo). Dieses Bekenntnis hält den Gehalt des Inkarnationsglaubens nur dann fest, wenn das „wahrhaft Mensch geworden“ das „wahrhaft Jude“ unmittelbar und unverlierbar einschließt. Nicht ein beliebiger, sondern eben dieser Mensch – von Geburt Jude, Angehöriger des Volkes Israel, stammend aus dem Geschlecht Davids – ist zu Ostern als der Christus, als der Sohn Gottes offenbar geworden. Indem Gott den Juden Jesus als den wahren Zeugen des Kommens der Gottesherrschaft sichtbar macht, bezeugt er seine definitive Selbstbindung an Israel. 2.1.5 Die Inkarnation des präexistenten Gottessohnes in einem Menschen aus dem Volk Israel ist Ausdruck der Selbstbindung Gottes an Israel. Sie kann deshalb vom christlichen Glauben nicht als etwas bloß geschichtlich Zufälliges bewertet werden; denn die zur Selbstoffenbarung Gottes in Christus hinführende Geschichte ist die Geschichte Gottes mit Israel, mit keinem anderen Volk. 2.1.6 Daher gilt: Das durch das Christusgeschehen geschaffene besondere Verhältnis der Kirche zu Israel ist unauflöslich, weil 53 die Erwählung Israels in die Geschichte des Einen Gottes hineingehört, der sich in Christus offenbart hat. Dann aber gilt auch, daß die Erwählung Israels als Volk Gottes auch aus der Perspektive des Christusglaubens nicht der Vergangenheit angehört und daher nicht als ungültig und überholt verstanden werden kann. Mit Paulus ist zu sagen, daß die Verheißungen für Israel durch das Christusereignis bestätigt (2 Kor 1,20) und zugleich vertieft und erweitert worden sind (Gal 3,6-18). 2.1.6.1 Bedeutet dies, daß das Erwählungshandeln Gottes an seinem Volk Israel auch weiterhin gilt, obwohl Israel das Zeugnis von der Offenbarung Gottes in Christus nicht annimmt? Wie ist dieses Fortgelten dann zu verstehen? Die Antwort auf diese Frage ist für das christliche Reden von Gott von entscheidender Bedeutung, weil es hier um die Frage geht, ob Gott sich selbst treu bleibt. 2.1.6.2 Die prophetische Verheißung hofft darauf, daß Gott „einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen“ wird (Jes 65,17) Diese prophetische Verheißung wird aufgenommen und bestätigt in 2 Petr 3,13: „Wir warten eines neuen Himmels und einer neuen Erde nach seiner Verheißung, in welchen Gerechtigkeit wohnt.“ Der Seher der Johannesoffenbarung verbindet diese Sicht der neuen Welt ebenso wie der Prophet in Jes 65,17-25, mit der Schau des Neuen Jerusalem; er fügt allerdings hinzu, daß in dieser Stadt Gottes kein Tempel sein wird, „denn der Herr, der allmächtige Gott, ist ihr Tempel, und das Lamm“ (Offb 21,22). Christen warten also wie die Juden auf die Erfüllung der prophetischen Verheißung der Zukunft Gottes und auf seine zukünftige Welt. Sie verstehen diese Erfüllung aber so, daß in ihr das in der Christusoffenbarung angebrochene Heil vollendet wird. 2.1.7 Es ist also deutlich: Die Offenbarung Gottes in Christus veranlaßt den christlichen Glauben, das in den heiligen Schriften des Judentums fixierte Offenbarungs- und Wahrheitszeugnis festzuhalten und diese Schriften im Licht der Christusoffenbarung zu lesen, zu verstehen und auszulegen. Also ist es 54 die Christusoffenbarung selbst, die das spezifisch christliche Verständnis der Heiligen Schriften Israels (2.2) und das daraus resultierende christliche Go ttesverständnis (2.3) begründet. 2.2 Das christliche Verständnis der Heiligen Schriften Israels 2.2.1 Die Kirche liest und versteht die Heiligen Schriften Israels, das christliche Alte Testament, im Licht der Christusoffenbarung. Zugleich liest und versteht die Kirche das neutestamentliche Christuszeugnis im Licht ihres Alten Testaments. 2.2.2 Durch die Tatsache, daß die Heiligen Schriften Israels als „Altes Testament“ ein Teil des zweiteiligen Kanons der christlichen Bibel sind, wird die Kirche immer wieder an ihren Bezug zu Israel erinnert. Die alttestamentlichen Schriften besitzen im Gottesdienst, aber auch in der persönlichen Frömmigkeit der einzelnen Christen, eine große Bedeutung. Jeder christliche Umgang mit alttestamentlichen Texten, insbesondere auch jede Predigt, muß aber beachten, daß dieselben Schriften auch im Judentum Autorität besitzen. 2.2.3 Aus der spannungsvollen Kontinuität des einen Handelns Gottes an Israel und an der Kirche folgt für die Kirche ein bestimmter Umgang mit der alt- und neutestamentlichen biblischen Tradition: Nach dem christlichen Verständnis der Heiligen Schriften Israels zielt die in ihnen ausgesprochene Verheißung auf das Christusgeschehen, also auf das Kreuz und die Auferweckung Jesu von Nazareth als des Christus und auf sein Kommen als endzeitlicher Richter und Retter. Neben und vor diesem christlichen Verständnis der Heiligen Schriften Israels gibt es aber die jüdische Leseweise, die im Tenach (Tora, Propheten und ‘Schriften’) gerade nicht das „Alte“ (oder „Erste“) Testament sieht, sondern die eine in sich abgeschlossene Heilige Schrift. Zu fragen ist nicht, welche dieser beiden Leseweisen der Heiligen Schriften Israels als die „richtige“ anzusehen ist. Vielmehr gilt, daß sowohl Israel als auch die Kirche ihre Auslegung 55 der ihnen jeweils anvertrauten Texte je für sich selbst zu verantworten haben. 2.2.3.1 Der Kanon der christlichen Bibel, in dem die Heiligen Schriften Israels nur ein Teil sind, ist ein anderer Kanon als der jüdische, der allein den Tenach umfaßt. Es wäre allerdings unsachgemäß, wollte man sagen, der christliche Kanon umfasse den jüdischen Kanon mit, der jüdische Kanon sei also einfach ein Teil des christlichen. Vielmehr haben wir es mit zwei unterschiedlichen Kanons zweier unterschiedlicher Gemeinschaften zu tun. Obwohl in beiden Kanons teilweise dieselben Texte enthalten sind, stehen sie in jeweils unterschiedlichen Lektüre- und Auslegungszusammenhängen. 2.2.3.2 Wenn die Heiligen Schriften Israels im christlichen Kanon als das „Alte Testament“ bezeichnet werden, ist damit nicht das „Alte“ im Sinne des „Veralteten“ gemeint; „alt“ bezeichnet vielmehr das Anfängliche und Grundlegende. Dies soll auch der bisweilen gebrauchte Begriff „Erstes Testament“ zum Ausdruck bringen; e r kann allerdings dahin mißverstanden werden, als würde das erste Glied einer beliebig fortsetzbaren Reihe benannt. Auch würde durch das Nebeneinander von „Erstem Testament“ und „Neuem Testament“ der christliche Gedanke der Einheit beider Teile der Bibel eher gefährdet als bewahrt. Auch die Bezeichnungen „Jüdische Bibel“ oder „Hebräische Bibel“ sind problematisch, wenn damit der erste Teil des christlichen Kanons bezeichnet werden soll; denn durch sie könnte der Irrtum entstehen, der jüdische Kanon sei ein Teil des christlichen. Ihr Recht haben alle diese Bezeichnungen darin, daß sie daran erinnern wollen, daß der erste Teil des Kanons der christlichen Bibel im Schriftenbestand textidentisch ist mit dem ganzen jüdischen Kanon. 2.2.4 Die frühe christliche Gemeinde hat – was historisch betrachtet im Grunde überraschend ist – die ihr überkommene Überlieferung der Heiligen Schriften Israels in deren Wortlaut festgehalten. Die Texte wurden weder durch nachträgliche Einfügungen, Streichungen oder „Verbesserungen“ verändert, 56 noch wurden diese Schriften christlich „redigiert“. Die christlichen Gemeinden rezipierten das vorösterliche Schriftzeugnis also bewußt in der diesem Zeugnis eigenen Offenheit für unterschiedliche Verstehensmöglichkeiten; die Kirche hat dann in ihrem zweifachen biblischen Kanon dieses Zeugnis gerade so als für ihre Verkündigung verbindlich erklärt. Durch den veränderten Aufbau des Kanons des Alten Testaments insbesondere aufgrund der Entscheidungen der Reformation wurde allerdings die Bezogenheit der alttestamentlichen Schriften auf das Geschehen der Christusoffenbarung stärker betont. 2.2.5 Der christliche Umgang mit dem Alten Testament muß in dem Bewußtsein geschehen, daß dessen Texte mit den Texten der Heiligen Schriften Israels in Wortlaut und Bestand übereinstimmen, auch wenn sie nicht der jüdische Kanon sind. Die Offenbarung Gottes in Christus bestätigt die mit Israel begonnene Erwählungsgeschichte; sie lenkt daher die Aufmerksamkeit auf das Offenbarungs- und Glaubenszeugnis Israels vor der Entstehung der Kirche. Sie führt zur Anerkennung der in diesem Zeugnis enthaltenen Wahrheit. Die Kirche wird dabei allerdings ihren eigenen Auftrag nicht vergessen, daß sie die Texte der Heiligen Schriften Israels von ihrem Christusglauben her zu lesen und sich den eigenen Glauben auch von den Aussagen des Alten Testaments füllen zu lassen hat. Jede Begegnung der Kirche mit der jüdischen Lektüre und Auslegung des Tenach wird davon geprägt bleiben, daß ihr eigener Zugang zum Alten Testament vom christlichen Glauben bestimmt ist. 2.2.6 Bei der Frage nach dem Verhältnis von jüdischer und christlicher Leseweise geht es zunächst nicht darum, ob wir – beispielsweise dank der Möglichkeit der historisch-kritischen Erforschung der Texte – die Notwendigkeit erkennen, zwischen dem historisch „ursprünglichen“ Sinn der Textaussagen einerseits und deren vom Osterglauben her gewonnener christlicher Auslegungsperspektive andererseits zu unterscheiden. Die Perspektive, um die es hier geht, ist vielmehr die der Predigt, d.h. es geht um die kirchliche Verkündigung der Botschaft 57 der Heiligen Schriften Israels als des christlichen Alten Testaments. Dies schließt eine historisch-kritische Auslegung keineswegs aus, sondern legt sie im Gegenteil nahe. Aber selbst dann ist zu berücksichtigen, daß auch eine scheinbar ausschließlich historisch- kritische Interpretation von einem „Vorverständnis“ bestimmt ist: Sie steht unter einer hermeneutischen Grundentscheidung, die aller Auslegung vorausliegt. Diese hermeneutische Grundentscheidung sieht im Judentum prinzipiell anders aus als im Christentum. Die Tatsache, daß es Textauslegung nie ohne ein Vorverständnis gibt, ist schon sowohl im antiken Judentum wie auch im entstehenden Christentum als legitim anerkannt worden. 2.2.7 Die jüdische, also die nicht durch den Glauben an das Christusgeschehen bestimmte Auslegung der Heiligen Schriften Israels enthält eine auch für die christliche Auslegung nicht nur legitime, sondern sogar notwendige Perspektive. Nur so ist es möglich, den eigenen Sinn der Texte der Heiligen Schriften Israels zu erkennen; andernfalls bestünde die Gefahr, daß die christliche Auslegung in den Texten des Alten Testaments immer nur sich selbst wiederentdecken würde. Durch das Lesen der jüdischen Auslegung des Alten Testaments und durch ihren Dialog mit Juden wird die Kirche in ihrer Theologie bereichert. 2.2.8 Aus den genannten Gründen hat das christliche Schriftverständnis völlig sachgemäß die Möglichkeit, von der jüdischen Auslegung der Heiligen Schriften Israels nicht nur zu wissen und sie zu respektieren, sondern sie auch bei der eigenen Auslegung zu beachten. Auf der Ebene historischer Forschung geschieht das in der theologischen Wissenschaft ganz selbstverständlich. Aber auch für Predigt und Unterricht der Kirche ist es ein Gewinn, daß das Glaubenszeugnis der Heiligen Schriften Israels nicht nur in seinem vom Neuen Testament her zurückblickenden christlichen Verständnis zur Geltung gebracht wird, sondern auch in der Offenheit für das diesen Schriften eigene jüdische und also nichtchristliche Verständnis 58 und damit zugleich in der Offenheit für die hieraus resultierende Auslegungstradition. 2.2.9 Die Osterbotschaft sagt, daß das Christusereignis die biblischen Verheißungen nicht allein bestätigt, sondern daß es sie zugleich neu interpretiert. Die jüdische Leseweise derselben biblischen Texte macht aber zugleich ein Zweifaches klar: Wir erkennen zum einen, daß sie Verheißungen enthalten, deren Erfüllung offenbar noch aussteht. Zum andern wird deutlicher, daß und in welcher Weise in der biblischen Überlieferung die diesseitig-irdische Existenz in ihrer ganzen Vielfalt auf Gott bezogen ist. 2.2.10 Für die christliche Verkündigung ist das Zeugnis der Heiligen Schriften Israels ein konstitutiver Teil der eigenen Offenbarungsgeschichte. In der im zweiten Jahrhundert von Marcion entwickelten Zwei-Götter-Lehre zeigen sich die Folgen einer Theologie, die den zwischen dem Zeugnis der Heiligen Schriften Israels und dem Christusgeschehen bestehenden Zusammenhang zu zerreißen versucht. Das Christusgeschehen selbst verpflichtet die Kirche, sich dessen bewußt zu bleiben, daß die in den Heiligen Schriften Israels bezeugte („alttestamentliche“) Offenbarung nicht nur ursprünglich, sondern bleibend an Israel gerichtet ist, wobei es nicht möglich ist, eine Diskrepanz zwischen dem „Gott für Israel“ und dem „Gott für die Welt“ zu konstruieren. 2.3 Das christliche Gottesverständnis 2.3.1 Die Kirche bekennt sich zu dem Einen Gott Israels. Sie tut das aufgrund von Tod und Auferstehung Jesu Christi sowie aufgrund der Ausgießung des Heiligen Geistes. Daher versteht sie diesen Gott anders als Israel, und sie spricht auch anders von diesem Gott, als Israel es tut. Sie bekennt sich zu dem dreieinigen Gott. Gerade so will sie dem Bekenntnis zu dem Einen Gott Israels treu bleiben. Die Lehre von Gott in der christlichen Ausformung als Lehre von der Dreieinigkeit Got- 59 tes (Trinität) kann nicht ohne ihren Ursprung in der Christusoffenbarung angemessen verstanden werden und darum auch nicht ohne Bezug auf die Geschichte und Gegenwart Israels. 2.3.2 In der Trinitätslehre wird ausgesagt, daß Gott mit Christus Jesus in der Einheit mit dem Heiligen Geist, immer schon, „vor Grundlegung der Welt“, der dreieinige Gott ist. Das Fundament für dieses Gottesverständnis ist bereits in den Schriften des Neuen Testaments gelegt. Die neutestamentlichen Schriften enthalten zwar noch keine begrifflich ausgeformte Trinitätslehre, wohl aber Aussagen zur Präexistenz Christi, also dazu, daß Christus vor aller Zeit bei Gott ist (Joh 1,1-14; Phil 2,6; vgl. Joh 8,58). Damit wird an bestimmte jüdische, schon im Alten Testament belegte Aussagen, insbesondere über die Präexistenz der Weisheit (vgl. Spr 8,22-36), angeknüpft. Nach christlichem Glauben handelt Gott in der Kirche und in der Welt gegenwärtig im Heiligen Geist, der zugleich die fortdauernde Gegenwart des auferstandenen und erhöhten Christus in Kirche und Welt bezeugt und verwirklicht. Die Trinitätslehre ist deshalb der für Christen theologisch angemessene Versuch, vom Geheimnis der Offenbarung Gottes zu sprechen. Die Trinitätslehre wird mißverstanden, wenn sie gedeutet wird als das menschliche Bemühen, Gott auf diese Weise definieren zu wollen. Vielmehr soll sie dazu dienen, die Rede von dem Einen Gott (vgl. Dtn 6,4) mit dem neutestamentlichen Zeugnis von der Auferweckung und Erhöhung Jesu Christi (Phil 2,9 -11) zu verbinden. 2.3.3 Der dreieinige Gott, von dem das christliche Bekenntnis spricht, ist kein anderer als der, zu dem Israel betet. Er ist der Schöpfer, der sich frei mit Israel verbunden hat und sich ihm in der Tora gnädig vergegenwärtigt. Nach christlichem Verständnis hat Gott in Christus die Welt mit sich versöhnt; durch den Heiligen Geist wird dieses Versöhnungshandeln Gottes zur Glaubensgewißheit, und in der Predigt wird es allen Menschen zugesprochen und vergegenwärtigt. 60 2.3.4 Der christliche Glaube bezeugt, daß Gott in der Geschichte handelt und daß er sich dabei in die Geschichte hinein vergegenwärtigt – vom Anfang der Schöpfung bis hin zur endzeitlichen Vollendung. Aufgrund der biblischen Überlieferung sieht die christliche Theologie Gott nicht als ein in sich ruhendes „höchstes Wesen“, sondern spricht vom lebendigen, handelnden Gott, der sich aus freier, souveräner Entscheidung den Menschen offenbart; dieses Offenbarungsgeschehen steht in Beziehung zur Geschichte. Die christliche Theologie spricht insofern nicht von der „Unveränderlichkeit“ Gottes – sie tut das schon deshalb nicht, weil sie trinitätstheologisch Gott als den mit sich selbst in Beziehung Stehenden denkt. 2.3.5 Der christliche Glaube bekennt sich zu dem gnädigen und barmherzigen Gott (Ps 103,8), der die Offenbarung seines Bundes mit den Geschöpfen in und mit Israel begonnen hat. In Israel hat er diesen Bund auch erneuert: Er hat sich in dem Juden Jesus selbst vergegenwärtigt und in ihm durch den Heiligen Geist seine Gnade und Wahrheit in ihrer ganzen Tiefe und Weite erschlossen (Joh 1,14). 2.3.6 Das christliche Gottesverständnis schließt die Einsicht ein, daß auch das außerhalb der Christusoffenbarung in Israel lebendige Verständnis des Schöpfers, seiner Gnade und Wahrheit, ihn selbst zum Grund und Gegenstand hat. Christen werden so daran erinnert, daß Gott die Freiheit hat, seinen Geist wehen zu lassen, wo er will. Deshalb weiß der christliche Glaube auch, daß die Hinwendung Gottes zu seinem Volk Israel, das Gott nicht trinitarisch denkt, durch die Erwählung der Kirche nicht aufgehoben wird. 2.3.7 Wo das christliche Gottesverständnis zur Sprache kommt, ist derselbe Gott gemeint wie der, von dem Israel spricht. Der christliche Glaube sieht das christliche und das jüdische Reden von Gott nicht nur als zwei unterschiedliche Weisen des Sprechens von demselben Gott, sondern als Ausdruck zweier verschiedener Verständnisse desselben Gottes. Der Eine Gott wird im Licht der Christusoffenbarung anders 61 verstanden als ohne diese Offenbarung, nämlich als der, der sich in Jesus Christus in neues Verhältnis zur Welt gesetzt hat. Die Tatsache, daß Israel und die Kirche denselben Gott meinen, wenn sie von Gott sprechen, und daß sie gleichwohl auf prinzipiell unterschiedliche Weise von diesem Einen Gott sprechen, muß in der Go tteslehre gewissenhaft reflektiert werden. Wir fragen: Was bedeutet es, daß Gott sich sowohl dem Volk Israel als auch der Kirche zuwendet? Wir können jedenfalls nicht sagen, die Kirche bilde mit Israel im Gegenüber zu dem Einen Gott gleichsam eine Einheit. Der christliche Glaube hofft aber, daß es in dem Einen Gott eine Einheit gibt, die Israel und die Kirche umfaßt und die endzeitlich sichtbar werden wird. 2.4 Gottes erwählendes Handeln 2.4.1 Der christliche Glaube spricht in Übereinstimmung mit dem Selbstzeugnis der Heiligen Schriften Israels von der Erwählung des Volkes Israel in Abraham und von der Erwählung durch die Gabe der Tora am Sinai. Zugleich spricht der christliche Glaube – in Analogie zu der jüdischen Vorstellung, Gott habe die Welt geschaffen, damit Israel erwählt werde – von der Erwählung der Kirche in Jesus Christus als einer Erwählung „vor Grundlegung der Welt“ (Eph 1,4). Beide Aussagen stehen nebeneinander – aber so, daß keine der beiden sich über die andere zu erheben vermag. Denn im Erwählungsglauben geht es um ein von Gott selbst her kommendes Geschehen, nicht um eine Reaktion Gottes auf menschliches Handeln. Das Motiv der Erwählung lenkt die Aufmerksamkeit auf das Handeln Gottes, und damit werden zugleich alle Ansprüche abgewiesen, mit denen sich Menschen aus sich heraus vor der Welt hervorzutun versuchen. Weder Israel noch die Kirche können deshalb einen Erwählungsanspruch erheben; beide sprechen vielmehr von Gottes Erwählungstat, der gegenüber die Erwählten immer nur Objekt, niemals Subjekt sind. Nach christlichem Verständnis schließt die Erwählung der Kirche „vor Grundlegung der Welt“ Gottes freie Entscheidung zur Erwählung des Volkes Israel ein, wodurch jeder Gedanke an eine Verwerfung Israels unmöglich 62 gemacht ist. Die Identität der Kirche in ihrer Geschichte – nicht nur in ihrer Geschichte mit Gott, sondern auch in der „Welt“- geschichte – hängt daran, daß sie den Ursprung ihrer eigenen geschichtlichen Entstehung im Volk Israel nicht vergißt oder verleugnet, sondern daß sie daran festhält, womit dann zugleich die bleibende Stellung Israels in der Offenbarungsgeschichte und damit das bleibende Verhältnis der Kirche zu Israel erkannt und anerkannt ist. 2.4.2 Die Offenbarung des gekreuzigten und auferstandenen Jesus als des Christus bestätigt das Offenbarungs- und Erwählungshandeln Gottes, das dieser mit Israel begonnen hat. Gottes freies Erwählungshandeln trägt das Ganze der Schöpfung und der Heilsgeschichte; es liegt seinem Ratschluß schon vor der Erschaffung der Welt zugrunde. Gott ist der in Freiheit Liebende. Das von ihm gewählte Ziel der Schöpfung ist die im Christusgeschehen sichtbar gewordene geschichtliche Vergegenwärtigung seines vorzeitlichen Heilswillens, der in der kommenden Vollendung der Schöpfung umfassend verwirklicht wird (vgl. Kol 1,15-20; Eph. 1,3-12). Im freien Heilswillen des Schöpfers gründet die Erwählung Israels als Volk Gottes, die Erwählung der Kirche als Volk Gottes aus Juden und Heiden und deren unauflösliche Bindung an das unwiderruflich erwählte Volk Israel. 2.4.3 Gott hat in souveräner Freiheit und Liebe Israel als sein Volk erwählt und mit ihm seinen Bund geschlossen. Die Erwählung ist allein in der sich erbarmenden Liebe Gottes und in der Verheißung an die Väter begründet. Exemplarisch dafür steht Dtn 7,6-8: „Denn du bist ein dem HERRN, deinem Gott, geweihtes Volk; dich hat der HERR, dein Gott, aus allen Völkern, die auf Erden sind, für sich erwählt, daß du sein eigen seiest. Nicht weil ihr zahlreicher wäret als alle Völker, hat der HERR sein Herz euch zugewandt und euch erwählt – denn ihr seid das kleinste unter allen Völkern –, sondern weil der HERR euch liebte und weil er den Eid hielt, den er euren Vätern geschworen, darum hat euch der HERR mit starker Hand herausgeführt und hat dich 63 aus dem Sklavenhause befreit, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten.“ Dieses Bundesverständnis gilt in seinen Grundbestimmungen für beide Testamente der christlichen Bibel. 2.4.4 Gott schafft nach dem Zeugnis der biblischen Schöpfungserzählungen die Menschen, nicht die Völker. Aber er schafft die Menschen nicht nur als einzelne, sondern zugleich als soziale Wesen, die gemeinsames Leben gestalten und über Generationen miteinander verbunden sind. So kann auch die Entstehung des Volkes Israel als Erfüllung der Mehrungsverheißung Gottes an Abraham (Gen 12,2) und insofern geradezu als eine „Familiengeschichte“ dargestellt werden. 2.4.5 Daß Israel erwählt wird, bedeutet also: Israel wird von Gott erst zu einem Volk, eben zu seinem Volk, gemacht. Gott wendet sich aus reinem Erbarmen einer kleinen Menschengruppe in Ägypten zu, um sie aus der Unterdrückung zu befreien. In diesem Zusammenhang wird in Ex 1,9 erstmals im biblischen Text der Name Israel auf das Volk bezogen; in der Gottesrede Ex 3,7-10 wird Israel dann ausdrücklich „mein Volk“ genannt. Für die Erwählung gibt es keinen anderen Grund als Gottes Liebe. 2.4.5.1 In den Schriften des Alten Testaments wird als Benennung des von Gott erwählten Volkes überwiegend das hebräische Wort ‘am’ verwendet, während die Israel umgebenden ‘Völker’ begrifflich davon unterschieden und zumeist ‘gojim’ genannt werden. Aber nach biblischer Aussage steht auch ‘mein Volk’ (‘ammi’) Israel in der Gefahr, zu einem ‘Nichtmein- Volk’ (‘lo ammi’; Hos 1,9) zu werden. Der Begriff des „Volkes Gottes“ bezeichnet also nicht nur eine soziologische oder biologische Größe, sondern er ist zunächst und vor allem in der Beziehung zu Gott begründet. 2.4.5.2 Die Herausführung Israels aus der Knechtschaft in Ägypten ist die Bestätigung der Zusage an Abraham für Israel als Volk. In diesem Errettungshandeln Gottes wurzeln die 64 Gaben des Bundesschlusses und der Tora sowie des dem Volk gegebenen Landes, durch die fortan Israels Leben wesentlich bestimmt und geprägt sind. 2.4.6 Sobald sich der Erwählungsglaube und ein Machtanspruch miteinander verbinden, geht die Wahrheit des Bekenntnisses, das von dem besonderen Rettungshandeln Gottes aus menschlicher Ohnmacht spricht, verloren. 2.4.6.1 Wenn sich also Israel als „das erwählte Volk Gottes“ versteht, begründet diese Aussage nicht einen Machtanspruch. Dasselbe gilt für die Kirche: Wenn Christen sich als „das in Christus erwählte Volk Gottes“ verstehen, dann begründen auch sie damit keinen Machtanspruch. Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments sind sie die Gemeinde derer, die das Kreuz Christi zu tragen haben. Sie sind also erwählt zur Hingabe des Lebens als Dienst an der Gottesherrschaft (Mk 8,35; 10,43-45). 2.4.6.2 Durch die Erwählung Israels entsteht eine Abgrenzung, die als eine besondere Indienstnahme erscheint. Im Bund zwischen Gott und dem Volk wird dessen ganze Existenz in den Dienst des erwählenden Gottes gestellt. Daraus folgt praktischer Nonkonformismus; er gehört zum Selbstverständnis des Gottesvolkes dazu (Robert Raphael Geis) und ist in der antwortenden Treue auf Gottes Festhalten an seiner Erwählung begründet. Dasselbe gilt für die Kirche: Gerade als ‘Volk Gottes’ hat sie ebenso wie Israel eine besondere Stellung in der säkularen Welt. Der Titel ‘Volk Gottes’ schließt den an der Weisung Gottes orientierten „praktischen Nonkonformismus“ mit ein. 2.4.7 Nach biblischem Verständnis ist in die Erwählung des Volkes eine Verpflichtung eingeschlossen: Durch die Einzigkeit Gottes ist alles Tun des Menschen in den Horizont des Ersten Gebots gestellt. Die Einweisung des Volkes Gottes in den Willen dieses Gottes kulminiert im Ausschluß der Verehrung fremder Götter; dadurch soll sich das Volk Gottes in be- 65 sonderer Weise von den es umgebenden Völkern unterscheiden. 2.4.7.1 Der Kirche wird der Sinn und die Bedeutung des Ersten Gebotes durch Jesus Christus erschlossen. In der Begegnung mit Gottes Volk Israel wird sie immer wieder an die überragende Bedeutung des Ersten Gebotes für Glaube und Handeln erinnert. Vom erwählenden Handeln Gottes her ergeben sich bestimmte Pflichten für das Leben der von Gott erwählten Gemeinschaft: Israel als das von Gott erwählte Volk ist an Gottes Weisung, die Tora, gewiesen und durch das Liebesgebot an Gott gebunden. Für die christliche Gemeinde ist ihr Bekenntnis zu Jesus Christus die Antwort auf Gottes Selbstoffenbarung und darin zugleich die Antwort auf das Erste Gebot: Die Erwählung in Christus enthält die Verpflichtung auf das Gebot, den Einen Gott und den Nächsten zu lieben (Mk 12,28- 32; Röm 13,8f) und auf die Weisung, „einer trage des anderen Last“, und so das „Gesetz Christi“ zu erfüllen (Gal 6,2). 2.4.7.2 Nachfolge Jesu Christi bedeutet für die Kirche, daß allein durch den Glauben an Gottes Heilstat in Christus Vergebung der Sünden, Gerechtigkeit und ewiges Leben geschenkt werden (Confessio Augustana, Art. IV). Daraus folgt, daß der Glaube „gute Früchte und gute Werke hervorbringen soll“; dabei sollen die Glaubenden aber nicht auf Werke vertrauen, sondern sie wissen, daß „Vergebung der Sünde und Gerechtigkeit durch den Glauben an Christus“ empfangen werden (Confessio Augustana, Art. VI). Die Kirche bekennt, daß „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, das eine Wort Gottes [ist], das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“; wie Christus „Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist“, so ist er auch „Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“ (Theologische Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen, These I und II). 2.4.8 Es gehört zum Realismus der Schriften Israels, daß sie in aller Klarheit und Nüchternheit auch die Verfehlungen des 66 Volkes Gottes zur Sprache bringen und beklagen; dies geschieht insbesondere durch die Schärfe prophetischer Kritik. Aber aus Gnade hält Gott seinem Volk die Treue. Dies spiegelt sich in der Vorstellung, daß dieses Volk Gottes Eigentum ist: Gott ringt um sein Volk und gibt es nicht auf (vgl. Hos 2,19- 25). Dasselbe gilt entsprechend für die Kirche: Sie muß in ihrer Theologie in aller Klarheit und Nüchternheit auch ihre Verfehlungen zur Sprache bringen und beklagen; dies geschieht schon in den Briefen des Neuen Testaments, und es geschieht in der Selbstkritik der kirchlichen Lehre. Gleichwohl darf auch die Kirche hoffen und vertrauen auf die Gnade Gottes, auf die Treue und Beständigkeit des Eintretens Gottes für sein Volk – wie anders wollte die Kirche angesichts ihrer Geschichte auch bestehen. 2.4.9 Alle theologischen Versuche, die göttliche Erwählung plausibel zu machen und sie völlig zu durchdringen, stoßen an Grenzen. Gottes Treue zu der mit seiner Erwählung gegebenen Verheißung schließt die Möglichkeit des Gerichts ein. Die prophetische Verkündigung in Israel hat diesen Zusammenhang von Erwählung und Gericht immer wieder betont; in gleicher Weise spricht dies auch das Neue Testament für die Kirche und für die Christen aus (2 Kor 5,10). 2.5 Die Kirche als „Volk Gottes“ – Israel als „Volk Gottes“ 2.5.1 Die Kirche hat ihren Ursprung in der Ostererfahrung der Jüngerinnen und Jünger Jesu. Indem die Kirche an diesen Ursprung gebunden bleibt, bleibt sie an Israel gebunden. Dies muß in der Lehre von der Kirche, der Ekklesiologie, ausdrücklich festgehalten werden. 2.5.2 Im Anschluß an Paulus läßt sich die Kirche verstehen als die in Christus berufene Gemeinschaft; die im Christusgeschehen offenbarte und dem Menschen zugesprochene Rechtfertigung aus Glauben erweist sich als die Bestätigung des Han- 67 delns Gottes schon an Abraham (Röm 4). In gleicher Weise sieht der Apostel die Annahme der Völker durch Gott in der Verheißung an Abraham vorangekündigt (Gal 3,6 -8). 2.5.3 Aufgrund seiner biblisch begründeten Glaubens- und Wahrheitsgewißheit sieht sich Israel unverändert als Volk Gottes. Weil es den christlichen Glauben, daß die biblischen („alttestamentlichen“) Texte auf die Erwählung der Kirche vorausverweisen, nicht teilt, muß die Frage nach dem Nebeneinander von Erwählung Israels und Erwählung der Kirche durch denselben Gott gestellt werden. Es gilt beides: Gott hat das Volk Israel erwählt, und: Er hat die Kirche aus Juden und aus den Völkern erwählt und dadurch zu seinem Eigentum gemacht. Gott hat Israel durch die Gabe der Tora seinen Bund gewährt, und: Er hat in der Erneuerung, Vertiefung und Erweiterung dieses Bundes mit Israel allein aus Gnade allen an sein Handeln in Christus Glaubenden seine Gerechtigkeit zugesprochen. 2.5.3.1 Nach dem von Paulus in Röm 11 entworfenen Bild vom Ölbaum bildet Gottes erwählendes Handeln uranfänglich eine Einheit („die Wurzel“), und dieses Handeln bezieht sich zunächst allein auf den „Ölbaum“ Israel. Aber Gott hat aus diesem Ölbaum nun einige der Zweige „wegen ihres Unglaubens“ herausgerissen und andere eingepflanzt (Röm 11,17ff). Für Paulus ist der Ölbaum das Ganze der im vorzeitigen Ratschluß Gottes erwählten Träger der Abrahamsverheißung; der Ölbaum ist also nicht identisch mit dem empirischen Volk Israel. Paulus ist aber dessen gewiß, daß gleichwohl Gottes Heilsverheißung für Israel als Ganzes unverändert gilt und daß Israels Erwählung also unverändert in Kraft ist, obwohl das Gottesvolk in seiner Mehrheit Gottes Handeln in Christus nicht anerkennt. Paulus sieht darin den „Unglauben“ (11,23); aber er spricht auch davon, daß Gott am Ende aller Zeit die „ausgerissenen Zweige“ wieder „einpfropfen“ könne und werde (11,24); er entnimmt der Bibel die Verheißung Gottes, daß „der Retter aus Zion kommen wird“, und daß „so ganz Israel gerettet wer- 68 den wird“ (11,26f), jenseits der geschichtlichen Größen „Israel“ und „Kirche“. 2.5.3.2 Paulus versteht die Hineinnahme der Heiden in die eine uranfängliche Erwählung, das „Einpfropfen“ der „wilden Zweige“ in den Stamm des edlen Ölbaums, geradezu als das Zeichen dafür, daß Gott auch an den „ausgerissenen Zweigen“ am Ende nicht anders handeln wird. Keineswegs sind für Paulus „die Heiden“ an die Stelle „der Juden“ getreten, sondern Gott ist der souverän Handelnde für beide (Röm 11,21-24). 2.5.4 Das Neue Testament spricht an zwei Stellen ausdrücklich von der Kirche als dem ‘Volk Gottes’. In beiden Fällen, sowohl im Ersten Petrusbrief (2,9f) als auch im Titusbrief (2,14), werden Aussagen der biblischen, „alttestamentlichen“ Tradition verwendet und nun auf die christliche Gemeinde bezogen. In diesen Aussagen ist weder von einer Enterbung oder einer Ersetzung Israels als Volk Gottes die Rede, noch läßt sich auf andere Weise eine Herabsetzung Israels erkennen; wohl aber muß man sagen, daß das gegenwärtige, nicht an Christus glaubende Israel überhaupt nicht im Blick ist. Von einem „neuen Gottesvolk“ im Gegenüber zu einem „alten Gottesvolk“ ist im Neuen Testament nirgends die Rede. 2.5.5 Daraus ergeben sich Folgerungen für den sachgemäßen Gebrauch der Bezeichnung der Kirche als Volk Gottes. 2.5.5.1 Es ist ein Mißbrauch des Titels ‘Volk Gottes’, ihn der Kirche so zuzusprechen, daß er dadurch Israel abgesprochen wird. 2.5.5.2 Richtig verwendet wird die Bezeichnung ‘Volk Gottes’ für die Kirche, wo sie als durch die Erwählung Gottes geschaffene Gemeinschaft unter die Verheißung der endzeitlichen Vollendung gestellt wird. Diese Heilsverheißung gilt der Schöpfung als ganzer. Daher gibt das richtige Verständnis der Kirche als ‘Volk Gottes’ immer auch der Relativierung der Kirche in ihrer Beziehung auf die noch ausstehende Vollen- 69 dung Ausdruck; es bringt ihr Gesendetsein zu Zeugnis und Dienst zur Sprache und behauptet nicht etwa ein Vorrecht für sie. 2.5.6 In den reformatorischen Kirchen hat die Selbstbezeichnung ‘Volk Gottes’ lange kaum eine Bedeutung gehabt. Über lange Zeit hinweg stand eine Vorstellung von Volk als natürlicher Gemeinschaft im Vordergrund auch des theologischen Denkens und des Selbstverständnisses der Kirchen. Erst als dieses Verständnis durch katastrophale Erfahrungen seine beherrschende Stellung verlor, konnte in der ökumenischen Bewegung die Bezeichnung der Kirche als ‘Volk Gottes’ aufgegriffen werden. Seit der Gründungsversammlung des ÖRK 1948 bezeichnet dieser Begriff die Kirche als eine alle natürlichen Völker übergreifende Gemeinschaft, die durch Gottes Erwählung geschaffen, auf die Vollendung am Ende der Zeit bezogen und auf diese Vollendung hin zu Zeugnis und Dienst verpflichtet ist. Dieses Zeugnis schließt die Bezeugung der unlöslichen Verbundenheit der Kirche als Volk Gottes durch göttliche Erwählung mit Israel als Volk Gottes durch göttliche Erwählung ein. Dieser Gedanke ist in der Studie der Leuenberger Kirchengemeinschaft „Die Kirche Jesu Christi“ von 1994 weitergeführt worden. In der römisch-katholischen Kirche ist durch das Zweite Vatikanische Konzil der Begriff ‘Volk’ wichtig geworden für das Verständnis des Wesens der Kirche im Gesamtzusammenhang des erwählenden Handelns Gottes. 2.5.7 Die Kirche ist nicht allein eine „historische“, sondern zugleich eine geglaubte Größe. Dies zeigt die ekklesiologische Akzentuierung des vom Heiligen Geist sprechenden Dritten Artikels der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse. Die Kirche ist beides: sichtbar als Gemeinschaft von Menschen und verborgen als Werk Gottes. 2.5.8 Mit den nur für die Kirche geltenden Bezeichnungen allein kann die volle Ökumenizität der Kirche nicht ausgesagt werden – schon deshalb nicht, weil es für die Kirche nach ih- 70 rem Selbstverständnis unmöglich ist, sich allein und prinzipiell als „Kirche aus den Völkern“, also nur als „heidenchristliche“ Kirche zu sehen. 2.5.9 Der Titel ‘Volk Gottes’ stellt die Kirche in einen sie selbst heilsam relativierenden größeren Gesamtrahmen, der die menschheitliche Perspektive des Heilswillens Gottes anzeigt. Neben dem erwählungs- und bundestheologischen Begründungszusammenhang ist die eschatologische Perspektive das Hauptkennzeichen eines theologisch qualifizierten Verständnisses von ‘Volk Gottes’. Auch die Kirche ist als ‘Volk Gottes’ noch nicht der Ort der Erfüllung; vielmehr ist sie unterwegs zum verheißenen Reich der Herrlichkeit Gottes. Deshalb ist die Bezeichnung der Kirche als ‘Volk Gottes’ ihrem theologischen Gehalt nach gar keine „Selbstbezeichnung“, sondern sie ist ein der Kirche sola gratia zugesprochener Ehrentitel, der sie angesichts ihres faktischen Erscheinungsbildes eher beschämen als bestätigen müßte. Aus sich heraus kann die Kirche nicht beanspruchen, ‘Volk Gottes’ zu sein, und dementsprechend kann sie aus dieser Bezeichnung vor der Welt auch nichts für sich selber ableiten. Sie kann nur immer wieder neu die Verleihung und den Zuspruch dieser Ehrenbezeichnung in der Praxis des lebendigen Christus entdecken und preisen. 2.5.10 Erst wenn das letzte Ziel aller Geschichte Gottes mit der Welt erreicht ist, wird das ‘Volk Gottes’ in seiner ihm von Gott her zukommenden Bestimmtheit sichtbar hervortreten. Bis dahin kann die Theologie das Geheimnis, das mit dem Verhältnis von Kirche und Israel gegeben ist, nicht auflösen. Die Kirche bekennt, daß sie durch Gottes Erwählungshandeln geschaffen ist und daß sie dadurch ‘Volk Gottes’ ist – mit Israel. Die Rede vom ‘Volk Gottes’ ist Bekenntnis und Lobpreis Go ttes. 3 Das Zusammenleben der Kirche mit Israel 3.1 Aus dem Gesagten ergeben sich Konsequenzen für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Kirche und Israel. 71 Die Kirche versteht sich als vom Gott Israels in Freiheit erwählt. Sie sieht sich als die durch den Glauben an die Offenbarung des Gottes Israels in Jesus Christus gestiftete Gemeinschaft. Israel sieht sie als das Volk, das Gott erkennt und verehrt im Horizont der in seinen Heiligen Schriften bezeugten Offenbarung, ohne das Bekenntnis zu Christus. Gerade von der Christusoffenbarung her kann aber nicht gesagt werden, Israel sei lediglich als der geschichtlich vergangene Kontext des Christusgeschehens anzusehen und sei nun „überholt“. Vielmehr ist Israel der unverändert konstitutive, keinesfalls überholte Bezugspunkt der Offenbarung Gottes in Jesus von Nazareth als dem Christus. Der Glaube weiß, daß in der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung, vom Anfang bis zum Ende der Zeiten, das Volk Israel seinen bleibenden Ort behält. 3.1.1 Aus der Perspektive des christlichen Glaubens gilt, daß der bleibende Platz, der Israel zukommt , aus dem göttlichen Erwählungshandeln resultiert. Israel selber definiert sich auch als Zusammenhang eines Volkslebens. Christen wissen, daß die Gemeinschaft des Volkes Israel durch ein Erwählungshandeln Gottes begründet ist, welches sich auf einen Lebenszusammenhang bezieht, der sowohl sozial wie religiös bestimmt ist. 3.1.2 Es gibt im Judentum unterschiedliche Selbstdefinitionen dessen, was ‘Israel’ ist. Neben der orthodoxen Bestimmung, wonach Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde, gibt es auch den Gedanken einer Abstammung vom Vater her. Es darf allerdings nicht übersehen werden, daß es auch nichtreligiöse Juden gibt, für die ihre Zugehörigkeit zum Volk Israel keineswegs mit der Zugehörigkeit zum ‘Volk Gottes’ identisch ist. Die Vielfalt jüdischen Selbstverständnisses ist zu respektieren. 3.1.3 Allen Selbstaussagen des Judentums gemeinsam ist, daß das Volk Israel sich auch im sozialen Sinn als Volk begreift, als eine Gemeinschaft, die sich durch Verwandtschaftsbezie- 72 hungen in der Kontinuität der Geschichte seit biblischer Zeit reproduziert und erhält. Der auf dem erwählenden Handeln Gottes liegende Akzent verdeutlicht aber, daß der Begriff ‘Volk Gottes’ primär weder eine soziologische noch eine biologische Größe bezeichnet, sondern zunächst und vor allem fundamental theologisch begründet ist. Diese theologische Fundierung impliziert dann aber ihre eigene Soziologie; denn sie ordnet die Gemeinschaft dem Einzelnen vor, ohne damit die Einzelnen zu mißachten, und sie eröffnet so eine konsequenzenreiche Gestaltungsperspektive für das Leben dieses Volkes. Eine dieser Konsequenzen ist die Bindung Israels an die Gebote der Tora. 3.2 Christliche Verkündigung geschieht öffentlich und richtet sich an alle Menschen. Sie geschieht im Kontext des Dialogs mit den Religionen der Welt und im Gespräch mit nichtreligiösen Weltanschauungen. Ihnen allen gegenüber bezeugen Christen durch ihr Reden und Handeln selbstverständlich ihren Glauben. Dies gilt auch in der Begegnung mit Juden. Die Gemeinsamkeit des Zeugnisses von dem Gott Israels und das Bekenntnis zum souveränen Erwählungshandeln dieses Einen Gottes ist ein gewichtiges Argument dafür, daß sich die Kirchen jeglicher gezielt auf die Bekehrung von Juden zum Christentum gerichteten Aktivität enthalten. 3.2.1 Die Kirche ist sich dessen bewußt, daß ihre Anfänge in Israel liegen, und dies bedeutet, daß es im frühen Christentum eine Verkündigung des Evangeliums auch und zuerst unter Israel gegeben hat. Nicht das Recht der Verkündigung des Osterereignisses unter Juden war theologisch umstritten, sondern es bedurfte im Gegenteil die Heidenmission einer besonderen theologischen Begründung. Der Apostel Paulus hoffte, er werde bei seiner Arbeit als „Apostel der Völker“ auch Menschen aus dem Volk Israel für den Glauben an die Gottesoffenbarung in Christus gewinnen (Röm 11,13f). Er spricht in Röm 11,26-32 die Gewißheit aus, daß Gott am Ende aller Zeit sich Israels erbarmen werde, auch dann, wenn die Israeliten in ihrer 73 Mehrheit geschichtlich nicht zum Glauben an Christus kommen. 3.2.2 Die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses wird notwendigerweise von den konkreten Erfahrungen beeinflußt, die Juden mit Christen machen. Es ist unübersehbar, daß Erfahrungen, die Juden mit Christen machten, sehr oft die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses von Grund auf erschüttert haben. Daran müssen Christen sich erinnern lassen, wann und wo immer sie ihren Glauben bezeugen. 74 Teil III Die Kirche in Israels Gegenwart Aus den in Teil I beschriebenen Erfahrungen und den in Teil II gewonnenen Erkenntnissen für eine theologische Bestimmung des Verhältnisses der Kirche zu Israel ergeben sich Konsequenzen für die Praxis der Kirche. Die Erkenntnis, daß der christliche Glaube in Israel entstanden und die Kirche von ihren geschichtlichen Anfängen her bis heute auf Israel bezogen ist, führt zu der Einsicht, daß die Beschäftigung mit Israel im Leben der Kirche zu vertiefen ist. Die Kirchen in der Welt bestehen neben den empirisch wahrnehmbaren Formen jüdischer Existenz. Dies hat Folgen insbesondere für die Reflexion christlicher Gottesdienstpraxis und christlichen Glaubenszeugnisses neben und gegenüber Israel. Die Kirche hat stets neu die Aufgabe, ihren Standort in der Welt auch von ihrem Verhältnis zu Israel her zu reflektieren. Das Verständnis ihres Standorts in der Geschichte läßt die Kirche in allen ihren Handlungsfeldern auch nach den ethischen Herausforderungen unserer Zeit im Licht biblischer Tradition fragen. Dabei ist an die in Teil I betonte Erkenntnis zu erinnern, daß die Kirchen der Leuenberger Kirchengemeinschaft bei der Bestimmung ihres Verhältnisses zu Israel ihre Verflechtung mit ihren jeweiligen nationalen Kontexten zu berücksichtigen und die daraus resultierenden unterschiedlichen Formen der kirchlichen Zugänge aufzunehmen haben. 1 Folgerungen für die Praxis der Kirchen Die Folgerungen für die Praxis der Kirchen betreffen insbesondere (1.1) Gemeindearbeit und kirchenleitendes Handeln, (1.2) kirchliche Verkündigung und Unterrricht, (1.3) Gottesdienst und Festkalender sowie (1.4) kirchliche Ausbildung und Fortbildung. Dabei werden am Ende jeweils praktische Empfehlungen formuliert, die in den Kirchen beraten und jeweils nach den gegebenen Möglichkeiten umgesetzt werden sollten. 75 1.1 Gemeindearbeit und kirchenleitendes Handeln 1.1.1 Die Kirchen tragen Sorge dafür, daß das Evangelium von Jesus Christus seine Leuchtkraft und Klarheit behält; deshalb achten sie darauf, daß christliche Identität nicht durch Abwertung oder Verzeichnung des jüdischen Glaubens profiliert wird. Notwendig ist ein Miteinander der eigenen Glaubensidentität und Glaubensgewißheit mit dem verstehendem Hören auf das Bekenntnis und die Identitätsaussagen Israels. Die Reflexion eines schriftgemäßen und theologisch angemessenen Verhältnisses von Kirche und Israel ist eine bleibende Aufgabe der Kirchen. 1.1.2 Im Kampf gegen alle Erscheinungsformen von Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus weiß sich die Kirche an der Seite Israels. Christliche Gemeinden gewinnen an Glaubwürdigkeit, wenn sie bereit sind, auch über ihren eigenen Bereich hinaus gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Sie fördern das Verständnis von Humanität und Menschenrechten aufgrund des christlichen Menschenbildes. Sie bemühen sich um die sachgerechte Darstellung der Geschichte und die kritische Reflexion der aktuellen Situation im Hinblick auf Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und den Umgang mit anderen Kulturen, Religionen und ethnischen Minderheiten. Der den christlichen Gemeinden durch ihre eigenen theologischen Wurzeln von vornherein mitgegebene Reflexionshorizont ‘Kirche und Israel’ ist dafür eine wichtige Grundlage. In ihrem Alltag werden Gemeinden unterschiedliche Situationen vorfinden und dementsprechend unterschiedliche Formen des Engagements und der Vermittlung suchen. Das Bemühen, die Geschichte früher bestehender jüdischer Gemeinden im eigenen Umfeld wieder bewußt zu machen, hat in vielen christlichen Gemeinden die Sensibilität für die Geschichte und für die Gegenwart neu geweckt. 1.1.3 Die Kirche ist aus geschichtlichen und theologischen Gründen mit Israel in Solidarität verbunden. Dies gilt auch dann, wenn Kirchen zum arabisch-israelischen Konflikt und zu 76 aktuellen politischen Entscheidungen der Regierung des Staates Israel kritisch Stellung nehmen. Die Kirchen treten allen Tendenzen entgegen, die zionistische Bewegung, die zur Gründung des Staates Israel führte, als rassistisch zu diffamieren. Die Kirchen unterstützen alle Bemühungen des Staates Israel und seiner Nachbarn, insbesondere des palästinensischen Volkes, in gegenseitiger Achtung einen sicheren, dauerhaften und gerechten Frieden zu finden und zu bewahren. Die Frage, ob die Gründung und Existenz des Staates Israel auch für Christen eine theologische Bedeutung hat, wird in den Kirchen unterschiedlich beantwortet und bleibt eine Herausforderung für die Kirchen. In diesem Zusammenhang ist jede direkte politische Inanspruchnahme der biblischen Landverheißungen zurückzuweisen. Ebenso sind alle Deutungen, die diese Verheißungen im Licht des christlichen Glaubens als überholt ansehen, abzulehnen. Die christliche Wahrnehmung der Erwählung Israels als Volk Gottes kann in keinem Fall dazu führen, daß die Unterdrückung von politischen, ethnischen und religiösen Minoritäten religiös legitimiert wird. 1.1.4 Im Gespräch mit anderen Religionen, in vielen Ländern Europas vor allem mit dem Islam, sind die Gemeinden und ihre Mitglieder heute mehr als je zuvor herausgefordert, ihren Glauben in Dialog und Auseinandersetzung zu bezeugen und zu reflektieren. Auch in diesem Zusammenhang gilt es, die besondere Beziehung, die Christen mit Juden verbindet, unter Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes zu vermitteln: Im Religionsunterricht, in Konfirmandenunterricht und Katechese, in der Erwachsenenbildung sowie in Arbeitskreisen und Projektgruppen. 1.1.5 Empfehlungen – Die Kirchen fördern kontinuierlich arbeitende Gruppen, die die Aufgabe haben, die theologischen und gesellschaftlichen Konsequenzen der Begegnung von Kirche und Israel zu bedenken und für alle kirchlichen Handlungsfelder fruchtbar zu machen. Wenn möglich sollte dies unter Beteiligung jüdischer Gesprächspartner geschehen. 77 – Die Kirchen pflegen einen lebendigen Austausch über ihre jeweilige Arbeit zur Klärung des Verhältnisses von Kirche und Israel. Sie geben einander Teil an den von ihnen durch diese Arbeit gewonnenen Erkenntnissen. Die Kirchen bemühen sich darum, auf allen Ebenen Kontakte zu jüdischen Gemeinden in ihrer Nachbarschaft aufzubauen und lebendig zu halten. Nicht zuletzt angesichts der durch Migrationsbewegungen ausgelösten neueren Entwicklungen innerhalb der jüdischen Gemeinden in Europa bemühen sie sich um praktische Solidarität, wo immer diese willkommen ist. – Die Kirchen nehmen ihre Kontakte und Mitgliedschaften in solchen Organisationen aktiv wahr, die Vertreterinnen und Vertreter von Kirche und Israel zusammenführen bzw. die sich dem Bemühen um Verständigung, Frieden und Entwicklung im Nahen Osten widmen. 1.2 Kirchliche Verkündigung und Unterricht 1.2.1 Christlicher Glaube entsteht durch das diesen Glauben bezeugende Weitersagen, und er lebt davon. Christen sagen die Botschaft von dem Einen Gott weiter, den sie als den Schöpfer und Retter bekennen. Christen erkennen, daß Juden ebenfalls Zeugnis ablegen von diesem Einen Gott. Deshalb kann kirchliche Verkündigung in Predigt und Unterricht dem Gemeinsamen von Juden und Christen und dem sie Verbindenden Raum geben. Dabei ist insbesondere daran zu erinnern, daß Christen den Tenach als ihr Altes Testament lesen, und daß sie mit Juden durch Hoffnungen verbunden sind, deren Erfüllung sie auf je ihre Weise erwarten. 1.2.2 Christliche Predigt ist Verkündigung des gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus. Christliche Verkündigung geschieht unter dem Maßstab des Ersten Gebots: Sie bezeugt das Einssein und die Einzigkeit des Gottes Israels. Sie bekennt den Einen Gott in der Einheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. So steht sie in der Spannung von Verbinden- 78 dem und Trennendem. Indem sie die Einheit Gottes bezeugt, macht sie deutlich, daß auch die Christuspredigt „in Israels Gegenwart“ erfolgt. 1.2.3 Christen und Juden legen voreinander Zeugnis ab von ihrem Glauben. Dabei berücksichtigt die Artikulation der christlichen Glaubensüberzeugung die unheilvolle Geschichte christlicher Ve rsuche, Juden für den Glauben an Jesus Christus zu gewinnen. Das angemessene christliche Zeugnis gegenüber Israel vermeidet deshalb insbesondere alle Formen, die es in den Verdacht geraten lassen könnten, bestehende Zwangslagen ausnützen zu wollen. 1.2.4 In ihrer Verkündigung tritt die Kirche jeder Form von „Israelvergessenheit“ entgegen. Sie nimmt die vom Judentum in besonderer Weise betonte Bedeutung der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit Gottes ernst. Der Ruf zur Umkehr zu dem Einen Gott verbindet Kirche und Israel miteinander. Dies findet seinen Niederschlag insbesondere auch dort, wo die kirchliche Verkündigung die in der Tora und den anderen Teilen der Heiligen Schriften Israels, des christlichen Alten Testaments, bezeugte Barmherzigkeit Gottes weitersagt. Kirche und Israel bezeugen in gleicher Weise, daß diese Barmherzigkeit den Anspruch aller Menschen auf Gerechtigkeit und das Recht der Schöpfung auf Integrität einschließt. 1.2.5 Empfehlungen – Christliche Verkündigung bringt die Verbindung des christlichen Glaubens mit dem Judentum zum Ausdruck. Sie tritt insbesondere allen Versuchen entgegen, den angeblich unbarmherzigen, rächenden Gott des Alten Testaments dem barmherzigen, gnädigen Gott des Neuen Testaments gegenüberzustellen. Sie trägt zur Überwindung des bis heute nachwirkenden Vorwurfs bei, die Juden seien „Gottesmörder“. – Christliche Verkündigung bemüht sich um sachgemäße Aussagen über das Judentum und seinen Glauben. Sie vermeidet beispielsweise die Weitergabe von Klischees 79 über die jüdische Gesetzesfrömmigkeit und achtet auf jüdisches Selbstverständnis. – Die in einigen Kirchen bis heute erkennbare Zurückhaltung gegenüber alttestamentlichen Predigttexten wird kritisch reflektiert und überwunden. Dazu ist das verstärkte Bemühen der alttestamentlichen Wissenschaft und der Homiletik um eine der christlichen Predigt dienliche Hermeneutik ebenso erforderlich wie eine Überprüfung der Predigtperikopenreihen, ebenso die Ermutigung, alttestamentliche Texte als Lesungen zu gebrauchen und als Predigttexte zu wählen. 1.3 Gottesdienst und Festkalender 1.3.1 In Gottesdienst und Feier bezeugt die Kirche ihre Verbundenheit mit Israel im Glauben an den Einen Gott, der die eine Menschheit geschaffen hat. 1.3.2 Viele liturgische Elemente des christlichen Gottesdienstes, die Lesung der Psalmen, fest formulierte Gebete, auch der liturgische Ablauf des Gottesdienstes, haben ihre Herkunft im Judentum. Im Jahres-Festkalender von Synagoge und Kirche gibt es zahlreiche Parallelen. Die Herkunft vieler christlicher Feste aus der jüdischen Tradition wird in der Gestalt, in der sie heute begangen werden, meistens nicht mehr deutlich. Wer Gottesdienste vorbereitet, leitet und feiert, sollte sich dieser Zusammenhänge aber bewußt sein und bei denen, die Gottesdienste und Festtage mitgestalten, das Bewußtsein für die geschichtliche Herkunft von Glauben und Kirche aus Israel wecken. 1.3.3 In der Feier des Abendmahls verkündigt die Kirche den Tod Christi, durch den Gott die Welt mit sich versöhnt hat. Sie bekennt die Gegenwart des auferstandenen Herrn und wartet auf seine Zukunft in Herrlichkeit. Das Abendmahl hat für die Identität der christlichen Gemeinde fundamentale Bedeutung; aber auch für die Abendmahlsfeier und -liturgie läßt sich deren 80 tiefe Verwurzelung in der jüdischen Gottesdienstpraxis zeigen. Indem die Feier des Abendmahls Vergebung der Sünden gewährt, Befreiung schenkt und Hoffnung auf eine umfassende Versöhnung und Erneuerung bezeugt, zeigen sich auch inhaltliche Entsprechungen zu jüdischen Vorstellungen, wie sie etwa in der Passafeier zum Ausdruck kommen. 1.3.4 Gegenüber einer unreflektierten Übernahme jüdischer Gebete oder anderer Teile der jüdischen (gottesdienstlichen) Tradition ist allerdings Zurückhaltung angebracht. Eine solche Übernahme steht in der Gefahr, die Austauschbarkeit von Glaubensaussagen vorzuspiegeln. Darüber hinaus kann eine solche Übernahme als mangelnde Achtung gegenüber dem jüdischen Selbstverständnis und Versuch einer substituierenden Aneignung der Traditionen Israels verstanden werden. 1.3.5 Empfehlungen – In den gottesdienstlichen Feiern kann die Nähe der christlichen zur jüdischen Gottesdienstfeier sowie die Herkunft vieler gottesdienstlicher Elemente aus der Tradition Israels immer wieder bewußt gemacht werden. – Kirche und Israel bezeugen die Segnungen des Sonntags bzw. des Sabbats für die Menschen und die ganze Schöpfung; deshalb gilt es, die vielfältigen Dimensionen und Implikationen der Unterbrechung des Werktaglebens und deren heilsame Kraft zu verdeutlichen. Die sonntägliche Feier geschieht im Hören auf das Wort von der Gnade und dem Gebot Gottes; sie preist die Auferweckung Jesu, und sie preist zugleich Gottes gute Schöpfung, die die den Menschen gesetzten Grenzen kennt. Sie vergegenwärtigt die Befreiung aus Knechtschaft, die ungerechten Verhältnissen widerspricht, und sie vergegenwärtigt ebenso den Anbruch des Reiches Gottes, in dessen Geist wir jetzt schon handeln. 81 1.4 Kirchliche Ausbildung und Fortbildung 1.4.1 Die Besinnung auf die Verbindung von Glauben und Kirche mit Israel hat Folgen für die Curricula kirchlicher Aus- und Fortbildung. Dabei spielt die Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Traditionen Israels ebenso eine Rolle wie die Wahrnehmung des heutigen Judentums. 1.4.2 Innerhalb der kirchlichen Aus- und Fortbildung wird das Christen und Juden Trennende so erörtert, daß Israel oder die Juden nicht als dunkle Folie benutzt werden, von der sich das Besondere des christlichen Glaubens dann positiv abheben kann. 1.4.3 Die besondere Verbundenheit von Kirche und Israel findet innerhalb kirchlicher Ausbildung ihren Ort soweit möglich im direkten Austausch mit Vertretern der jüdischen Gemeinschaft und ihrer Tradition. Die durch einen so gestalteten Austausch mit den Traditionen Israels gewonnene theologische Offenheit ermöglicht nicht zuletzt eine selbstkritische Reflexion der eigenen exegetischen, dogmatischen und praktischtheologischen Tradition und Terminologie. 1.4.4 In der kirchlichen Ausbildung, insbesondere im Vikariat und in den Schulen, aber darüber hinaus auch in ihrer Bildungsarbeit überhaupt, schärfen die Kirchen das Bewußtsein für die Notwendigkeit einer Besinnung auf das Verhältnis von Kirche und Israel. Dies befähigt dazu, die eigene Identität zu bezeugen und zugleich in angemessener Weise von Israel zu reden. 1.4.5 Empfehlungen – Die Kenntnis jüdischer Schriftauslegung und jüdischer Glaubenspraxis ist ebenso wie die explizite Reflexion der Israelbezogenheit der Kirche Bestandteil der theologischen Lehre in den kirchlichen Ausbildungsgängen. Deshalb wird empfohlen, wo immer möglich jüdische Dozentinnen und Dozenten – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit 82 christlichen Theologinnen und Theologen – in die Ausbildung einzubeziehen. – Studien- und Austauschprogramme an und mit jüdischen Ausbildungsstätten auf universitärer und anderer Ebene werden von den Kirchen aktiv unterstützt. Dies schließt die Ermutigung zur theologischen Spezialisierung auf das Gebiet des christlich-jüdischen Gesprächs, insbesondere die Kenntnis jüdischer Tradition und Geschichte, ein. – Pfarrerinnen und Pfarrer, Lehrerinnen und Lehrer werden ermutigt und unterstützt, wenn sie beispielsweise im Rahmen eines Kontaktstudiums die Realität des Lebens in Israel wahrnehmen wollen; die Kirchen schaffen Voraussetzungen dafür und bauen vorhandene Möglichkeiten weiter aus. 2 Zur gemeinsamen Verantwortung von Christen und Juden In der Auseinandersetzung mit Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sind Christen und Juden in den letzten Jahren an vielen Stellen gemeinsam aufgetreten und wissen sich darin miteinander verbunden. „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ – Themen, die im konziliaren Prozeß in vielen christlichen Kirchen besondere Bedeutung gewonnen haben, sind Anliegen und Hoffnungen, die Christen und Juden aufgrund der ihnen je eigenen Tradition bewegen. Im Kampf für die wachsende Verwirklichung von individuellen und sozialen Menschenrechten können sie Seite an Seite stehen. In den letzten Jahren gibt es in Europa viele Erfahrungen mit solchem gemeinsamen Engagement. Sie sind ermutigende Zeichen dafür, daß Schuld und Verletzungen nicht das letzte Wort behalten müssen, sondern daß – ohne die Vergangenheit zu vergessen oder zu verdrängen – behutsam gemeinsame Schritte getan werden können. Schlußwort 83 Die Kirchen der Leuenberger Kirchengemeinschaft erkennen und beklagen angesichts der jahrhundertelangen Geschichte christlicher Judenfeindschaft ihre Mitverantwortung und Schuld gegenüber dem Volk Israel. Die Kirchen erkennen ihre falschen Auslegungen biblischer Aussagen und Traditionen; sie bekennen vor Gott und Menschen ihre Schuld und bitten Gott um Vergebung. Sie halten an der Hoffnung fest, daß Gottes Geist sie auf ihren neuen Wegen führt und begleitet. Die Kirchen der Leuenberger Kirchengemeinschaft bleiben aufgerufen, je an ihrem Ort und in je ihrer besonderen Situation das Gespräch mit Juden zu suchen, wo immer dies möglich ist. Im gemeinsamen Hören auf die Heilige Schrift Israels, das christliche Alte Testament, kann nach Wegen zum gegenseitigen Verstehen gesucht werden. Das Nebeneinander von Kirche und Israel wird in der Geschichte nicht durch ein Miteinander abgelöst (Röm 11,25-32). Das Zeugnis des Neuen Testaments lehrt, daß es Grenzen des theologischen Wissens und Redens gibt, die von Menschen nicht überschritten werden können. Mit den Worten des Apostels Paulus (Röm 11,33-36) bekennt die Kirche: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn ‘wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?’ Oder ‘wer hat ihm etwas zuvor gegeben, daß Gott es ihm vergelten müßte?’ Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.“ 84 Themen der während der Lehrgespräche gehaltenen Referate* Die Israel-Dokumente der deutschen Kirchen seit 1945. Ergebnisse und offene Fragen Dr. Ralf Hoburg, 5.12.1996 (Basel) Der jüdisch- christliche Dialog in Deutschland seit der rheinischen Synodalerklärung von 1980 Prof. Dr. Heinrich Leipold, 5.12.1996 (Basel) Entwicklung und Fragestellungen im Zusammenhang mit der niederländischen Studie: „Israel, Volk, Land und Staat“ Dr. Andreas Wöhle, 6.12.1996 (Basel) Die Bedeutung Israels im jüdisch-christlichen Dialog aus der Sicht der Evang. Kirche im Rheinland Prof. Dr. Johann-Michael Schmidt, 17.4.1997 (Preetz) Exegetische Untersuchungen zum Israel-Begriff im Alten Testament Prof. M. Prudký, Prag, 18.4.1997 (Preetz) Die Israel-Sicht des Neuen Testaments Prof. Dr. Andreas Lindemann, 18.4.1997 (Preetz) Volk Gottes und das jüdisch-christliche Verhältnis Prof. Dr. Simon Schoon, Niederlande, 18.4.1997 (Preetz) Wodurch sehen sich Juden in ihrer Existenz und Identität heute infragegestellt? Stanislav Krajewski, Warschau, 18.9.1997 (Warschau) * Die Referate liegen größtenteils im Berliner Sekretariat schriftlich vor. * Erschienen in: Wort und Dienst. Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Bethel Bd.25, 1999, S.167-192. 85 Schrift und Tradition im Judentum. Hermeneutische Grundsätze Prof. Dr. Chana Safrai, Jerusalem, 19.9.1997 (Warschau) Volk Gottes in geschichtlicher Pluralität Rabbiner Dr. Roland Gradwohl, Jerusalem, 19.9.1997 (Warschau) Kirche als Volk Gottes an der Seite Israels Prof. Dr. Michael Weinrich, 20.9.1997 (Warschau) Das Potential des Begriffes „Bund“ für eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Christen und Juden Prof. Dr. Jürgen Roloff, 26.3.1998 (Amsterdam) ** Erschienen in: M. Weinrich, Kirche glauben. Evangelische Annäherungen an eine ökumenische Ekklesiologie, Wuppertal 1998, S.190-223. 86 Mitglieder der Lehrgesprächsgruppe „Kirche und Israel“ Delegierte Pfarrerin Lydie Cejpová, Böhmische Brüder Pfarrer Jan Cieslar, Stellvertreter des Bischofs, Slezská církev ev. a.v. Pfarrer Dr. Ernst Michael Dörrfuß (Vorsitzender), Ev. Landeskirche in Württemberg Oberkirchenrat Dr. Helmut Edelmann, Vereinigte Ev.-Luth. Kirche Deutschlands Prof. Daniele Garrone, Chiesa Evangelica Valdese Dr. Marianne Grohmann, Ev. Kirche A.B. in Österreich Prof. Dr. Eilert Herms, Vereinigte Ev.-Luth. Kirche Deutschlands Oberkirchenrätin Cordelia Kopsch, Ev. Kirche in Hessen und Nassau Pfarrer Dieter Krabbe, Reformierter Bund Prof. Dr. Heinrich Leipold, Ev. Kirche von Kurhessen- Waldeck Prof. Dr. Andreas Lindemann, Ev.-ref. Kirche, Deutschland Pfarrer Roman Lipinski, Ev.-ref. Kirche in Polen Oberkirchenrat Ernst Lippold, Evangelische Kirche in Deutschland Pfarrer Alain Massini, Eglises luth. et réf. de France Hans Vium Mikkelsen, Evangelical Lutheran Church of Denmark Zbigniew Paszta, Ev.-Augsburgische Kirche in Polen Prof. Dr. Johann-Michael Schmidt, Ev. Kirche im Rheinland Propst Jörgen Sontag, Nordelbische Ev.-Luth. Kirche Rev. Henning Thomsen, Evangelical Lutheran Church of Denmark Rev. Dr. Hans Ucko, Exec. Sec., Office on Inter-religious Relations / WCC Prof. Dr. Michael Weinrich, Lippische Landeskirche Pfarrer Dr. Gerard F. Willems, Vereinigde Protestantse Kerk in België Pfarrer Dr. Andreas H. Wöhle, Samen op Weg-Kerken, Niederlande Ständige Beraterin Prof. Dr. Chana Safrai, Jerusalem LKG-Sekretariat Präsident Dr. Wilhelm Hüffmeier (Leiter des Sekretariats) Pfarrer Dr. Ralf Hoburg (Geschäftsführer bis 1998) Kirchenrat Priv.-Doz. Dr. Helmut Schwier (Geschäftsführer) __ Mitglieder der Redaktionsgruppe